Zurück vom Exil im (zu)Haus(e). Vorher schon bedrückt. Daneben. Erschöpft.

Tanken war angesagt. In einem Winzort an Minitankstelle. Ging nicht anders.

Ein junger, riesiger Türke kassiert. „Du hast aber tolle Schuhe an!“

Ich schaue an mir hinab. Ach so. Ja. Diese Dinger lieb' ich!

Schnur. Geheimnisvoll geflochten. Anpassungsfähig an jeden Fuss.

Also berate ich. Schreibe Händler auf. Preise. Wir lachen. Es tut gut.

 

Das Haus erwartet mich still. Niemand redet, ist fröhlich. Ich bin es auch nicht.

Straße und Bürgersteig werden gefegt. Der Briefkasten ist zu leeren.

Fast scheint es, als würde ich hier noch leben. Aber nur „fast“...

Den Rucksack trage ich hinein, die Wasserkanister. Das Netbook.

Hose, Shirts, Lebensmittel. Mehr braucht es nicht.

Fast komme ich mir vor wie auf Trekkingtour. Lange her. Das Leben.

 

Als alles verräumt ist stürze ich mich auf's Schlafzimmer. Den Papierkram.

Ich bin ein „Papiermessie“. Liebe Bücher. Zeichnungen, Notizen.

Mist aber auch, nun ist es vorbei damit! Aussortieren angesagt!

Super, Briefe meiner Tochter fallen schon mal durch's Raster!

Auch noch von 2007, zum Geburtstag. Kann überhaupt gar nicht weg!

Dann liegt da das handgemachte Fotoalbum „Camino 2009“. Geht auch nicht!

 

Also besser CD's sortieren?! Erst einmal anhören...

Schon mal komplett falsch, vom Ansatz her. Geht überhaupt gar nicht!

Einfach will ich es mir machen, nur mal „reinhören“. Super. Volltreffer.

Tracy Chapman: Talking about a revolution. Ich singe laut mit.

 

Die Erinnerung geht zurück. Weit. Fast ein Vierteljahrhundert.

Ein ökologisches Jahr“ habe ich hinter mir (haben müssen).

Da ich es so engagiert absolviert habe, hat man mir ein ABM–Jahr versprochen.

Zwischendurch schneide ich Weiden, unter Wasser, in der Höhe. Zwischen Stachelbüschen.

Winter. Januar. Februar. März. Ich tapeziere das große Bauernhaus des Biologen.

 

Den versprochenen Job bekomme ich nicht. Aber ein Vorstellungsgespräch.

Diese Frau mag ich überhaupt gar nicht! Laut, selbstherrlich. Böse.

Sich dumm zu stellen könnte helfen?! Vor Telefonen fürchte ich mich.

Vor Faxen auch. Ärzten sowieso. Und Sterbenden? Oh, gruselig.

Beim Bewerbungsgespräch verstecke ich meine Unterlagen im Mantelärmel.

Nichts wie weg! So weit weg, wie es überhaupt nur geht von einem Hospiz!!

 

Eine Woche danach sitze ich schon in „meinem“ neuen Beratungsbüro.

Der Tod wird mir zum (all)täglichen Begleiter. Zuerst von fern.

Aber dann stehe ich ihm real gegenüber. Morgens, abends, nachts.

Acht Stunden Verwaltung. Plus acht Stunden Sterbebegleitung.

Sechs Stunden Schlaf. Fortbildung. Gerontopsychiatrie. Halbjährig.

Hatte ich nie gewollt. Ich bin jung. Die Menschen um mich her sterben.

 

Ohne es zu ahnen habe ich einen besonderen Draht zu ihnen.

Wir lachen miteinander. Weinen. Reden. Erzählen uns Geheimnisse.

An manchen Tagen sterben mehrere. Dann fahre ich danach zum Deich.

Schaue betroffen hinaus auf`s Meer. Verbuddele den Schmerz in mir.

Denn um 5 Uhr fängt der neue Tag an. Mit anderen Sterbenden.

 

Manchmal durchtanze ich eine Nacht in einer Diskothek. Um zu vergessen.

Dass der Tod mein Dauerbegleiter geworden ist. War es nicht genug?

Mein Mann, meine Mutter, meine Schwester starben kurz hintereinander.

Meinen jüngsten Sohn gab ich weinend hin. Irgendetwas stirbt mit ihm.

Wir sind keine Maschinen, sondern Menschen. Ich bin wie tot.

 

Der Ton im Hospiz ist grausam. Anders kann ich es heute nicht bezeichnen.

Der Mensch an sich zählt nichts. Er ist ein durchlaufender (finanzieller) Posten.

Würde ICH mir das heute für mich vorstellen können?

Ein Hospiz ja. Aber mit Menschen. Nicht kühlen Rechnern.

Damals ist es eine Frage der Zeit, wann ich zusammenbreche.

 

Meine Kinder sind fort. Jeder der drei an einem anderen Ort.

Schier unerreichbar für mich. Das große Haus ist leer.

Einsam durchwandere ich nachts über die Holztreppen seine Leere.

Der Knall kommt, als sich meine Lieblingspatientin mir anvertraut.

Völlig unvermittelt überrollt mich das. Sie wird misshandelt.

Von einer bei uns angestellten Pflegehelferin. Ich bin fassungslos...

 

Meine Rebellion, die daraufhin erfolgt, ist fruchtlos. Ich tobe.

Alles wird unter den Teppich gekehrt. Sollen 20 Menschen arbeitslos werden?

Wegen einer fast Hundertjährigen? Und einer geschockten Leitung?

Die eine ist entmündigt, die andere erhält eine Gehaltserhöhung.

30 Silberlinge erkauftes Schweigen. Ich kann in keinen Spiegel mehr sehen.

Für eine befreundete Mitarbeiterin übernehme ich den Silvesterdienst.

 

Meine Patienten und die Angehörigen umarmen mich. Happ new year!

Sie sind immer so lieb, Schwester Gabriele, danke Gott, dass es sie gibt!“

Mir ist schlecht, ich weine voll tiefer Verzweiflung im eisekalten Auto.

Unser Hospiz ist gespalten. Die Schwestern sind alle auf meiner Seite.

Aber meine Chefin ist eben das! Am Nachmittag verabschiedet sich ihr Mann.

Ich höre gerade „Talking about a revolution“. Er lacht. „Passt ja!“

 

Ich werde ihn nie wiedersehen. Auch keine der Mitarbeiterinnen.

Weder Sterbende, noch Apotheken, Ärzte, oder Angehörige.

Nach 47 Tagen ununterbrochenem Dienstes breche ich zusammen.

Eine Kerze, die nicht nur an beiden Enden gleichzeitig brannte.

Sondern vor allem in der Mitte. In ihrem zerbrochenen Herzen.

Am Ende allen Geldes ging ich nach Hamburg. Für eine neue Revolution...