Nach den Ereignissen von Halle wird der Vorschlag gemacht, als Zeichen der Solidarität einen gelben Davidstern zu tragen. Ich denke darüber nach, wie das wäre. Wie mein Umfeld darauf re- agieren würde. In einer spießigen Kleinstadt. Würde man dieses Signal überhaupt verstehen? Mit dem Kopf schütteln? Kann man solche Sterne irgendwo kaufen, oder näht man sie selbst ? Was wären die direkt spürbaren Folgen? Würden mir Verblendete die Scheiben einwerfen, weil sie nichts verständen?

 

Würde ich Angst nennen, was ich urplötzlich empfinde? Nein. Aber es ist eine Form von Beklommenheit. Bedrückung. Bei den Gedanken, was auf mich zukommen könnte...

 

Plötzlich ist da eine Erkenntnis. Wie war es für sie damals? Sie, das ist meine jüdische Großmutter. Trug sie den Stern, hat sie ihn auf ihren Mantel genäht? Ist sie überhaupt noch auf die Straße gegangen, im Berlin der Nazis? Den kleinen Familien- hund hatte sie längst abgeben müssen, das Radio, ihr uraltes Fahrrad. Nur ein Teil der Qualen, die sie heimsuchen.

 

Mein Großvater hat sich „auf Anraten“ von ihr scheiden lassen. Er ist „Arier“ und hat eine wunderbare Möglichkeit gefunden, die ungeliebte Frau loszuwerden, ohne für sie sorgen zu müs- sen. Wovon hat sie gelebt? Wurde sie von meinem Vater ir- gendwie versorgt? Hatte er als sog. „Halbjude“ überhaupt die Möglichkeit dazu?

 

So viele Fragen und ich konnte sie nie jemandem stellen. Als Kind war ich noch weit entfernt davon, als ich wollte, da war niemand mehr da, der mir Antworten hätte geben können...

 

Meine Großmutter hatte drei Söhne. Zwei von ihnen starben. Als Kinder? Erwachsen? Warum? Wie? Meinem Vater wurde na- hegelegt sich „freiwillig“ an die Front zu melden. Erging es den Brüdern auch so? Oder wurden sie verschleppt? Was hat diese einfache Frau alles aushalten müssen? Wie kam sie überhaupt um die Jahrhundertwende nach Berlin? Als Folge der Indus-trialisierung? Hat sie in einer Fabrik gearbeitet? Als Hausmäd- chen? Vielleicht in einer jüdischen, großbürgerlichen Familie?

 

Antworten bekomme ich keine. Von wem auch?

Was ich weiss: Mein Vater (in erster Ehe verheiratet) hatte auch drei Kinder. Waren es im Elternhaus drei Jungen, so sind es bei ihm Mädchen. „Nur“ Mädchen, wird er oft sagen. Das Elend der Zeit bringt es mit sich, dass es keine praktizierenden jüdischen Ärzte in Berlin mehr gibt. Als eine meiner Halbschwestern schwer an Keuchhusten erkrankt, gibt es keine medizinische Hilfe. Kein Medikament. Meine Großmutter (inzwischen aus ihrer Wohnung gejagt) versteckt sich in einer Laube. Sie nimmt das kranke Enkelkind auf flehentliche Bitten hin zu sich. Die Luft im Garten könnte Linderung bringen, was in der dunklen, unge- heizten Mietskaserne unmöglich wäre. Aber zu allem Unglück stirbt das Kind dort.

 

Die Spur meiner Großmutter verliert sich in dieser Nacht. Floh sie ins Ungewisse? In einem zerbombten Berlin? Starb sie bei einem der Bombenangriffe, als unbekanntes Opfer? Ver- schleppte man sie in ein KZ? Oder überlebte sie schon diese Nacht nicht, „vogelfrei“, wie sie als ältere Jüdin war?

 

Sie muss damals ungefähr in dem Alter gewesen sein, wie ich es jetzt bin. Kein einziges Foto existierte von ihr. Sie verschwand so spurlos, wie sie kam. Wie sah sie aus? Bin ich ihr ähnlich? Immer wieder mal frage ich mich das.

 

Mein Vater kehrte als einziger der Söhne aus dem Krieg zurück. Und hatte eine „arische“ Stiefmutter. Seine Ehe war zerbrochen, eine Tochter tot. In den Trümmern einer vernichteten Stadt stieß er nur auf die Scherben einer Familie. Er lernte meine Mutter mit ihrer Tochter kennen. Sie heirateten. Ich kam zur Welt. Wieder „nur ein Mädchen“.

 

Nach der Flucht in den Westen sollte alles ganz anders werden. Ein Neuanfang. Mit einem dicken Strich unter die Vergangen- heit. Aber man nimmt immer sich selbst und die eigene Ge- schichte mit. Wohin man auch geht.

Bei der Eheschließung hatte meine Mutter festgestellt, dass mein Vater einer halbjüdischen Familie entstammte. Sie konnte nicht mehr zurück, aber hasste ihn von Tag zu Tag mehr. Was sich von Geburt an auf mich erweiterte. Hatte doch extra sie meinen Namen ausgesucht, gesehen auf einem bestickten Pullover. Als ich evangelisch getauft wurde, sagte der Pfarrer, als er mich auf dem Arm hielt: „Und so einen schönen hebräischen Namen hast du bekommen! Gabriele bedeutet >gesandt von Gott< und das kann man ja auch wirklich sagen, wenn ein El- ternpaar schon über vierzig ist!“ Das gab meiner Mutter wohl noch den Rest...

 

Die Nacht vom 9./10. Nov.1938 nannte man später die Reichs-progromnacht. War es der erste deutlich sichtbare Schrecken einer „neuen Zeit“? In welcher leben wir heute? Könnte alles noch einmal geschehen? Sucht man wieder (oder immer noch) nach Sündenböcken?

 

Wer meine Lebensgeschichte kennt, der weiss um das grausa- me Kuriosum meiner Herkunft. Denn höchstwahrscheinlich war mein sozialer Vater gar nicht mein biologischer. Und meine jü- dische Großmutter somit nicht meine biologische Ahnin. Was ich erst mit über fünfzig Jahren erfuhr. Von einem Mann, den ich nie und nimmer als Vater hätte haben mögen!! Wer waren seine Eltern? Wo lebten sie? Wie sahen sie aus? Überstanden sie den Krieg? Warum wurde ihr Sohn ein fanatischer Nationalsozialist? Auch hier kann es keine Antworten für mich geben.

 

So bleibt mir nur meine Berliner Großmutter, die Mutter meiner Mutter. Die ich leider erst kennen lernte, als sie bereits 73 Jahre alt war. Und ihr Mann, mein Großvater, der damals bereits al- tersverwirrt war. Sicher hatte sein Einsatz im ersten Weltkrieg mit Kriegsgefangenschaft und Verwundungen und sein Einsatz im Volkssturm als letztem Aufgebot im zweiten Weltkrieg dazu beigetragen. Ebenso wie der Tod seiner Söhne. Ihm blieben nur die Töchter...

 

Warum ist die Welt so verdreht und grausam? Sollen die Menschen manches sein und anderes nicht? Ist an ihnen immer irgendetwas verkehrt, mal von der einen Seite, dann von der anderen? Wie kann denn ein Mensch „besser“ oder „richtiger“ sein, nur weil er eine bestimmte Hautfarbe hat, den jeweils als „allein richtig“ angesehenen Glauben, aus einem genehmen Land kommt? Mal zwangsweise ein Kopftuch tragen soll, woan- ders wiederum auf gar keinen Fall? Warum bin ich eine „Un- gläubige“ wenn ich an Gott glaube? Als Frau weniger wert als ein Mann? Verblendet, wenn ich die „falsche“ Partei wähle, usw. usw. Könnte man endlos so fortsetzen.

 

Ich wünschte, ich hätte den Mut den gelben Stern zu tragen. Vielleicht schon allein deshalb, um der Welt zu zeigen, wie ab- surd das alles ist. Menschen einen Stempel zu verpassen. Sie in Schemata zu pressen. Ach ja, dann bin ich ja auch noch Asper- ger Autistin. Noch ein Grund für Be(oder Ver-)urteilungen.

 

Können wir Menschen nicht endlich mal

mit all' dem Blödsinn aufhören??!!