Der Junge wurde ohne Vater geboren. "Vermisst an der Westfront", stand in dem Brief, der lapidar beschrieb, dass der Soldat vermutlich tot war. Ahnte er, dass ein Kind, sein Kind in der fernen Heimat unterwegs in die Welt gewesen war? Die Mutter sprach nicht darüber. Viele Söhne wuchsen im Jahr nach dem Krieg vaterlos auf. Was man nicht gekannt hat, das vermisst man auch nicht, wird er später sagen, wenn er nach seiner frühen Kindheit befragt wird. Der Vater existiert für Johannes einfach nicht.


Die Mutter arbeitet als Hauswirtschafterin bei Menschen aus dem Dorf. Wie so viele Frauen dieser Zeit kann sie von der schmalen Witwenrente nicht existieren. Das Kind erhält nichts, da es beim Tod des Vaters noch gar nicht geboren war. So einfach macht man es sich. Das Kind versteht, ohne zu wissen. Es ist verschlossen, ein Einzelgänger. Liest, schreibt, bastelt, hält sich viel in der Natur auf. Die Mutter ist froh darüber, sie hat keine Zeit sich zu kümmern. Ist für fremde Kinder zuständig. Als deren Mutter früh stirbt. Es ist ein Villenhaushalt. Jüdisch geprägt. "Irgendwo im Osten", wird der Junge später sagen. "Polen, Schlesien, Pommern - was ist der Unterschied? Egal, wo es war!"


Er wächst heran, bleibt aber zierlich und mittelgroß. Als er dreizehn Jahre alt ist, erklärt ihm die Mutter, dass sie sich verheiraten möchte. Und es für ihn eine ganz neue Zukunft geben wird. In einem anderen Land. Er bekommt neue Kleidung, Halbstiefel, einen Rucksack. Sein bisheriges Leben ist zu Ende. Das begreift er, als die Mutter mit ihm nach tagelangem Unterwegssein über eine Brücke läuft.


Immer wieder schaut Johannes sich um. Als suche er nach Vertrautheit. Etwas, das ihm noch bekannt vorkommt. Das endet, als sich die Mutter von ihm verabschiedet. "Sei schön brav und lerne gut," sind ihre letzten Worte an ihn. Verlegen streicht sie ihm noch einmal die Haare zurecht. Dann dreht sie sich um und geht zurück. Auf der langen Brücke dreht sie sich nicht mehr um.


Der Junge ist nun Lehrling. Anfangs setzt es Ohrfeigen und Prügel, aber bald merkt der Meister wie interessiert der Junge ist. Lernen möchte. Auch die fremde Sprache. Er ist begabt und fügt sich rasch ein. Erkennt Zusammenhänge und Vorgänge. Nach seinem Abschluss wechselt er zu einem anderen Handwerksbetrieb. Denn er ist lernbegierig.
Von einer neuen Partei wurde schon lange geredet. Mit ihr würden Zucht und Ordnung einkehren, so sagen die Männer. Er zählt zu ihnen, will erwachsen sein und wird Mitglied. Begreift wieder schnell. Woran das deutsche Volk zugrunde geht. Wer an allem die Schuld trägt. Aus seiner eigenen Geschichte heraus weiß er es ja schon: Auch ihm hat ein Jude etwas genommen: die Mutter. Er hasst, so tief es ihm nur möglich ist!


Als der 2.Weltkrieg beginnt ist er gerade 20 Jahre alt und meldet sich freiwillig. Nun wird er dazu beitragen, die Schmach des verloren ersten Krieges auszulöschen. Er kennt keine Angst, ist immer in vorderster Linie. Menschenleben bedeuten ihm nichts. Bald fällt er auf, wird befördert. Wird gefragt, ob er nicht der SS beitreten möchte, die brauche "harte Hunde" wie ihn. Er kennt sich gut im Osten aus. Das befähigt ihn rasch zu besonderen Aufgaben. Er wird Mitglied der SS-Totenkopf-Division. Deren Auftrag die Bewachung und Vernichtung von Menschen ist. Menschen, die er hasst, bis auf's Blut...


Zu morden wird für ihn zum Alltag. Nun hat er Macht. Ist Herr über Leben und Tod. Er darf, ja er soll sogar alle und alles auslöschen. Gerade "die Brut", damit niemand eines Tages zurückkehren und Rache nehmen kann. Es fällt ihm leicht. Kameraden fotografieren die Erschießungen, erstellen Fotoalben, wie andere Menschen Bilder ihrer Familien einkleben. Er hat keine. Er ist nur ein Mörder in schwarzer Uniform. Gottlos. Mitleidslos. Selbst ein Opfer. Seines eigenes Hasses.


Das Blatt wendet sich. Die Alliierten verzeichnen Sieg um Sieg. Die Ostfront muss zurückweichen. Nicht ohne die dortigen Konzentrationslager zu "leeren". Längst ist Johannes Offizier. Er, der sich immer so tapfer und unerschrocken gezeigt hat. Als Deutscher, der er vielleicht gar nicht war. Aber immer in seiner Biographie sein wollte.
Als er bemerkt, dass das Kriegsglück längst auf anderer Seite steht, zieht er sich ein Stück hinter die Front zurück. Laufen muss er längst nicht mehr, er wird im schwarzen, offenen Auto gefahren. Bei einer dieser Touren sieht er ein Kind an einem Brunnen stehen. Er lässt anhalten und fragt das Mädchen mit den blonden Zöpfen: "Du bist doch bestimmt ein deutsches Mädel?" Es nickt. Daraufhin schenkt er ihm Süßigkeiten. "Ist deine Mutter auch so hübsch wie du?" Das Kind nickt erneut. "Dann sag' ihr, dass ich morgen wiederkomme und etwas für euch mitbringe!"


Es kommt, wie es wohl kommen muss. Die beiden jungen Menschen verlieben sich ineinander. Ihnen bleiben nur wenige Tage, um miteinander zu reden, sich zu erzählen wer sie sind und woher sie kommen. Sie sitzen am Brunnen, halten sich an den Händen, lachen und weinen. Deutschland könnte diesen Krieg verlieren, das müssen sich beide in diesen Tagen eingestehen. Werden sie sich nach dem Ende wiedersehen? Und wo?


Beide nennen sich ihre Adressen, lernen sie auswendig. Fragen sich immer wieder ab. Dann hört man schon den Geschützdonner von der näher rückenden Front. Ein Bündel ist gepackt, ein kleiner Koffer. Das Mädchen setzt seine Schultasche auf und darf sonst nur die geliebte Porzellanpuppe mitnehmen. Der Wagen des Offiziers bringt sie einige Kilometer weit fort. Mehr geht nicht, sonst bekäme er Probleme. Noch einmal flüstert er: "Berlin" und die Straße. Eine letzte Umarmung, beide weinen. Mutter und Tochter fliehen zu Fuß gen Westen. Der Mann in der schwarzen Uniform der "SS-Panzer-Division Totenkopf" lässt sich zur Front fahren.


Für die Frau mit dem Mädchen endet die Flucht Monate später in Tirol, das sie körperlich unverletzt erreichen. Nur das Kind hat sich verändert. So viele Fliegerangriffe hat es überlebt. Tote Menschen, tote Tiere gesehen. Es ist verstört und spricht nicht mehr. Erst Wochen später kehren sie heim, nach Berlin. Die Wohnung steht noch, die Eltern leben, der Ehemann ist vermisst. Ein Kriegsschicksal, wie es millionenfach zu verzeichnen ist, in diesen Tagen.


Der Offizier in der schwarzen Uniform mit dem Totenkopfanstecker steht plötzlich Russen gegenüber. Es wäre sein Todesurteil. Wenn er nicht so sprachbegabt wäre. Er spricht fließend Polnisch und Russisch und erzählt eine haarsträubende Geschichte, um sein Leben zu retten. Viele Mitkämpfer werden einfach erschossen, er kommt in Kriegsgefangenschaft.


Ein junger, gutaussehender Mann, mehrsprachig und clever fällt im Gefangenenlager auf. Er wird zum Sprecher. Und kann die Lagerärztin für sich gewinnen. Sie beschützt ihn, erhält in am Leben. Wieder einmal hat er Glück. Er übersetzt, muss nicht hart arbeiten, wird mit Essen und warmer Kleidung versorgt. Aber kommt dafür lange nicht frei. Erst im Sommer 1952 erhält er seine Entlassungspapiere. "Wohin?" wird er gefragt und antwortet: "Berlin, ....straße." Von BRD und DDR weiß er nichts. Züge tragen ihn Tag um Tag und Nacht um Nacht von Sibirien gen Westen, der geliebten Frau entgegen. Lebt sie noch? Wartet sie auf ihn?


Er steigt aus dem Waggon. Müde. Entsetzt über das, was er in Berlin Ost vorfindet. Noch immer Ruinen. Russen. Und läuft durch die zerstörte Stadt. Zu einer Adresse, die er sich noch im Schlaf immer wieder in Erinnerung gerufen hat. Sie war sein Grund zu überleben. Sein Ziel. Nun steht er vor dem Haus. Fragt.


"Da hinten," sagt jemand, "dritter Hinterhof". Das Klingelschild zeigt: "5. Stock". Er zieht sich am Geländer hoch, Stufe für Stufe. Wie es vier Jahre später ein kleines Mädchen tun wird. Der selben alten Frau entgegen...


24.06.2022


--- Wird fortgesetzt---