Kapitel 5


Eine wahrhaft ungeheure Reise 




Ich erbat mir Bedenkzeit bis zum nächsten Abend. Die folgende Nacht war kurz für mich und viele Gedanken fluteten mein Hirn. An meinem Bett lag ein kleines Notizbuch, in das ich in den vielen Schlafpausen eintrug, was alles aus meiner Sicht noch ungeklärt war. Es kamen so einige Fragen zusammen. Aber keine von denen, die ich wirklich hätte stellen sollen!

Aber wie hätte ich auch erahnen können, wer Kilian wirklich war und welche Pläne er mit jenen hatte, die ihm auf den Leim gingen. Jemand der öffentlich in Tageszeitungen nach Mitarbeitern suchte, der musste doch geradezu ein seriöser Anbieter sein?!

Tja, so einfach vermag man sich den Anschein von Normalität zu verleihen. Eine ausge-fallene Stellenanzeige, interessierte Bewerber, ein netter Ansprechpartner am Telefon, die Aussicht auf exklusive Reisen, auch noch mit nobler Aufwandsentschädigung. Und wäre man  irgendwie misstrauisch geworden, hätte der nette Ben das Gespräch ganz einfach beendet mit den Worten: „Du passt leider nicht in unser Team, wir wünschen dir aber viel Erfolg für deine weitere Stellensuche!“

Aber auf all' das kam ich erst, als es schon längst zu spät und das Leben aller Probanden in höchster Gefahr war. Im Moment war ich gedanklich noch völlig harmlos mit den äußeren Umständen beschäftigt. Ob Unterbringung in einem Hotel, oder einer kleinen Wohneinheit mit Privatsphäre? An einem Stadtrand, oder in der City (weil ich darüber nachdachte, eventuell mein Fahrzeug mitzunehmen)? Oder würde ich per Bahn oder mit dem Flugzeug anreisen, wegen der großen Entfernung? Um welche Stadt in Süddeutsch-land ging es eigentlich? Sollte ich gleich Urlaubsbekleidung mitbringen? Wenn ja, für welche Art von Reise / Region?

Um den Kopf frei zu bekommen, streife ich mir Laufschuhe, -hose und Jacke über. Sich zu bewegen tut immer gut, wenn der Kopf voll ist und in der Weite der Natur kann man Gedanken ganz anders beurteilen, als zwischen den Wänden des eigenen und vertrauten Hauses.

Es zieht mich an diesem Morgen nicht nach links die Straße hinunter zum Delft, sondern in die Gegenrichtung. Um zu den Wallanlagen zu kommen, den ehemaligen „Schanzen“, also dem früheren äußeren Verteidigungsring der Stadt. Zu einer Zeit, in der mit Geweh-ren auf den Gegner gefeuert und der Feind noch im Nahkampf mit Hellebarden traktiert

wurde.

Heute ist es im Prinzip eine Grünanlage um die halbe Stadt herum, mit einem künstlich angelegten Gewässer, Schwanenteich genannt, obwohl sich eher Enten darauf tummeln, einem Kinderspielplatz, kleinen Brunnen, mächtigen uralten Bäumen, Blumenteppichen in Frühjahr und Sommer und zugleich Standort mehrerer gut erhaltener historischer Windmühlen.

Dort trifft man mehr auf die Emder Bürger aus den umliegenden Wohnvierteln, Radfah-rer, Hundebesitzer, Familien und Studenten, die bei schönem Wetter auf Decken und mit Picknickkörben die gepflegten Rasenflächen bevölkern. Entlang den Kanälen kann man wandern, am Falderndelft kleine Boote bewundern, oder sich einfach auf einer der vielen Bänke niederlassen, um „Leute zu gucken“.

Die Urlauber halten sich eher in der anderen Cityseite, dem Stadthafen, auf. Dort ist alles wesentlich urbaner und auch auf Touristen ausgerichtet.

Der Wind kommt heute von See und fährt stürmisch durch die hohen Baumkronen mit ihren unzähligen Blättern. Der Jahreszeit entsprechend ist es ziemlich frisch, aber wir Friesen sind daran gewöhnt und meistens ziemlich wetterfest. Falls mal nicht, tragen wir bereitwillig Steppjacken, Segelwesten, Mützen oder Schals über der Bekleidung, dem alt-bekannten Spruch des Nordens folgend, nach dem es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Bekleidung gäbe. Ein ganz klein wenig wärmer hätte ich es allerdings schon gern gehabt!

Es ist leicht den Kopf auf Urlaubsgedanken umzustellen, während die Beine inzwischen schon wieder fast von selbst laufen. Ob man sich eventuell einen Urlaub in einem Sporthotel aussuchen dürfte?  Mit Trainer*innen, Massagen, Sprudelbädern, vitaminrei-chem Speisebüfett und Programmen, die sich ganz nach ihren verwöhnten Gästen rich-teten...  Andererseits gab es das alles schon längst an vielen Plätzen in der ganzen Welt. Sonderlich exklusiv war es also nicht unbedingt. Schade!

Was sollte überhaupt eine Reise bieten, die einen ganz besonderen Kick auslöste und dazu Einmaligkeit versprach? Darunter konnte ich mir nicht wirklich etwas vorstellen, zumal ich selbst noch nie ein Bedürfnis nach einem so ausgefallenen Angebot gehabt hatte!

Konzentriert auf meine Überlegungen war das Stadtzentrum rasch mehr oder weniger locker halb umrundet und traf im Bereich des großen Wasserturms auf den Innenstadt-bereich mit seinem Autoverkehr auf dem Ring und der Fußgängerzone in der Mitte, wo sich die Emder und ihre Feriengäste mischen.

Vor dem „Otto Huus“ wartet wie gewohnt eine Schlange von Fans, um sich das dort im Obergeschoss befindliche kleine Museum des Komikers anzuschauen, oder im unten befindlichen Lädchen "Ottifanten" oder andere Artikel mit mehr oder weniger Erinne-rungswert zu erwerben.

Unter dem Rathausbogen hindurch wird es gleich ruhiger und wie so oft statte ich dem dort befindlichen Büchercafe einen Besuch ab. Dort lässt es sich gemütlich sitzen, in aller Ruhe lesen, man kann die Passanten beobachten und vor allem eine Tasse Kaffee trinken und ein leckeres Stück Torte genießen.

Der Nachmittag vergeht entspannt in meiner kleinen Holzwerkstatt unter dem Dach, wo in meiner freien Zeit winzige Theater und Schaukästen entstehen, in denen sich kleine Möbel, Figuren, Häuser, wollige Schafe, schwarzweiße Kühe oder auch Schiffe befinden. Manchmal arbeite ich alte Möbelstücke auf, die danach nicht wiederzuerkennen sind, da ich ihnen mit Ornamenten, Schnitzereien und farbiger Gestaltung zu einem ganz neuen Leben verhelfe. Mein Haus ist daher komplett mit Möbeln in meinem ganz eigenen Stil eingerichtet. Zu denen ich eine liebevolle Beziehung habe.

Wieder einmal bleiben auf der anderen Straßenseiten Touristen stehen, die sicher aus den am Wall befindlichen Hotels kommen und zur Stadt wollen. Dafür müssen sie das „Holländische Viertel“ durchqueren und oft verharren sie, um sich die Fassaden der historischen Häuser anzuschauen, aber vor allem, um sie zu fotografieren. Das ist nach so vielen Jahren nicht mehr ungewohnt für mich, aber Stadtführer mit größeren Gruppen und lauten Äußerungen nerven manchmal schon.

Doch auch zur Entstehungszeit, im 16. Jahrhundert, war die damalige Geschäftsstraße nahe den Häfen und mit dem Entladekran, der die Waren aller einlaufenden Schiffe ent-lud, wie auch dem Falderndelft, in dem die großen Holzschiffe, die Koggen, gebaut wur-den, sicher sehr belebt. Diese befuhren damals die halbe Welt und waren die klassischen Handelsschiffe ihrer Zeit.

Ging man an meinem damals schon stehenden Haus vorbei, die Straße hinauf und bog nach rechts ab, durchschritt man das gut bewachte Herrentor, durch das allerdings nicht nur Wohlhabende die Stadt verließen, sondern auch Delinquenten, die man auf dem na-hen Galgenberg hinrichtete. Sicher ein großes und beliebtes Spektakel bei der zuschau-enden Bevölkerung!

Das hätte ich mir sicher nicht antun müssen, aber wie gern wäre ich einfach so durch die damaligen alten Gassen und Straßen gegangen, hätte am Hafen verharrt und bewun-dernd vor dem prächtig ausgestatteten  Rathaus der zu dieser Zeit reichen Hansestadt Emden gestanden.

Als ich Ben später am Telefon davon erzählte, sagte ich zu ihm: „Das wäre eine Reise für mich, aber vermutlich tödlich, bei all' den Krankheiten dieser Zeit, den Hexenverfolgun-gen und überhaupt!“ Er lachte und erst sehr viel später verstand ich warum...