Viele Jahre verstrichen. Die junge Frau wurde älter und vertraute sich und ihre Kinder nun stählernen Flügeln an, die sie über den Wolken zu den Kontinenten in der Ferne trugen. Sie wollte ihnen die Freiheit zeigen. Das Lachen. Die Meere. Das Gefühl Zeit zu haben. Und Mauern zu überwinden. Dass Menschen, auch wenn sie vielleicht ganz anders aussehen, fremde Sprachen sprechen, oder eine andere Hautfarbe haben - in der Tiefe ihres Herzens doch alle die gleichen Wünsche haben. Sicherheit. Frieden. Geborgenheit. Ein Dach über dem Kopf. Und Essen auf dem Tisch. Gesundheit. Liebe. Einen Sinn in ihrem Leben. Wenn auch nicht für immer, so flohen sie doch für ein paar Wochen. Auch vor der immer noch alles beherrschen wollenden, verbitterten Familienpatriarchin.


Jahrzehnte später folgten Zeiten mit Wanderstiefeln an den Füßen und einem Rucksack auf dem Rücken. Viele tausende Kilometer zum Beispiel in Nordspa-nien auf Pilgerwegen, mit der Freiheit zu bleiben, wo man wollte. Unter einem schier endlos erscheinenden Himmel.  Mit mächtigen Wolkenschiffen, bei Sturm, Regen, Gewittern, Hitze und Schnee. Gebirgen, Flüssen, Brücken, Getreidefel-dern bis zum Horizont. Mit Nächten auf Brettern, unter Tischen, auf Kirchenem-poren und in Viehställen, Garagen und Klostersälen. Es war die Freiheit zu blei-ben, wo man wollte. Mit wem man sein wollte. Unter diesem so unendlich er-scheinenden Himmel.


Mit dem ersten Ziel Santiago. Und dem zweiten. Dem Meer in Finisterre, dem Ende der Welt. Es war, wie endlich angekommen zu sein. Als habe sich ein Kreis geschlossen. Zwischen Himmel und Wasser. Kindheit und Erwachsenenleben.


Jetzt geht eine gereifte Frau an anderen Stränden entlang. Sammelt Muscheln, Algen und Treibholz wie damals. Noch immer liebt sie den Schnittpunkt am Horizont, wo die Elemente sich vereinigen. Dort muss die Freiheit sein, denkt sie, die Unendlichkeit beginnen. 


In solchen Momenten wird ihr Herz ganz leicht, als sei es aus Seidenpapier ge-faltet und weite sich sekundenschnell, als wolle es Raum in sich schaffen, für all das Gute, Helle und Warme, das immer existiert, auch wenn manchmal Wolken die Sonne verdecken, oder Unwetter den Himmel verdunkeln. Man darf nur nie vergessen, dass jedes Gewitter vergeht, aus jeder dunklen Nacht am Morgen ein neuer Tag geboren wird.


Wird das Herz jedoch roh aus diesem Traum gerissen, krampft es sich blitz-schnell und schmerzhaft wieder zu einem kleinen, harten Golfball zusammen, der so unendlich und bitter in der Brust quälen kann. Verengt sich die Luft, die noch kurz zuvor so unendlich zu sein schien. Vergeht jegliche Illusion, dass das Leben auch schön sein kann. Wenn manchmal auch nur in kurzen Episoden.


In schwarzen Stunden denkt man immer wieder daran, dass man nie mehr das Fenster weit öffnen wird, um sich hinaus zu schwingen und weit bis hinter den Horizont zu fliegen, vielleicht mit dem Wunsch nie mehr zurückkehren zu müs-sen. Das ist unmöglich geworden, wenn man keine Flügel mehr hat. Die wohl ausgerissen wurden, damit man nicht fliehen kann.


Ob sie nachwachsen können? Davon habe ich noch nie gehört. Und glaube auch nicht daran. Dass aber manchmal Wunder geschehen, die niemand zu erklären vermag, das habe ich schon selbst erlebt. Vielleicht geschieht eines und gibt mir die Freiheit zurück...




Aber inmitten einer Zeit von Krieg, Krankheit, Elend und Not, 

darf man sich da so etwas Egoistisches überhaupt wünschen?