Ein anderer Junge...




Im Jahr 1912 springt zum ersten Mal ein Mensch mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug. Eine Amerikanerin überquert als erste Frau den Ärmelkanal in einem Eindecker. Alfred Wegener stellt seine Gedanken zur Kontinentalverschiebung der Öffentlichkeit vor. Der sechsjährige chinesische Kaiser dankt ab und ermöglicht damit die Entstehung der Republik  China. Das Wettrennen zum Südpol gewinnt Roald Amund-sen, sein Konkurrent Robert Falcon Scott und seine Begleiter kommen einen Monat zu spät. Und auf dem Rückweg ums Leben. Es ist auch das Jahr, in dem die Titanic sinkt...


In Berlin wiederum erblickt im Mai 1912 ein Kind das Licht der Welt, als jüngster von drei Söhnen. Im Wedding, einem typischen Berliner Arbeiterviertel. Vermutlich nahm niemand von ihm besonders Notiz, außer den Brüdern und den Eltern natürlich. Der Vater arbeitete als Elektriker in einem der unzähligen Betriebe, die wie Pilze aus dem Boden schossen und ermöglichte dem Kaiser die Verwirklichung seiner Großmachtsträume, ohne zu ahnen, wohin diese Deutschland und seine Menschen bald führen würden. Man war mit sich selbst beschäf-tigt. Auf einer ganz anderen Ebene sozusagen, wo es um Gas, Le-bensmittel und das finanzielle Überleben an sich ging. Wie sich die Bilder doch gleichen, wenn man an heute denkt.


Von der Kindheit des Kleinen ist nicht viel bekannt. Der Vater neigte zu Wutanfällen und Prügelstrafen. Die Mutter war liebevoll, still und bescheiden. Versuchte, ihre Söhne vor der Härte des Mannes zu beschützen, so gut es eben möglich war. Zwei Jahre später begann der 1.Weltkrieg und sie blieb mit den Kindern allein zurück. Gab es beiderseits Großeltern, was ja logisch gewesen wäre? Der Junge sprach später nie von ihnen. Vielleicht lebten sie weit entfernt, da nur die Jugend in die Hauptstadt strömte, um an der Industrialisierung Anteil zu haben. Oder sie spielten keine Rolle für die Familie.


Die Mutter hatte einen jüdischen Vater. Was man eben vermerkte, im Alltag aber keinerlei Rolle spielte. Und das wäre sicherlich auch so geblieben, wenn sich die Politik nicht in der Jugendzeit des Jungen plötzlich radikal veränderte. Mehr und mehr kam es zu Einschnitten im Alltag, die er als Jugendlicher in ihrer Gefährlichkeit lange gar nicht erkannte. Sie drang fast unauffällig in sein Leben ein. Und er konnte die Folgen bestimmt nicht gänzlich überblicken.


Theatermaler hatte er werden wollen. Er zeichnete begnadet und hatte Freundschaft mit einem Künstler geschlossen, der die Reklame für Kinos mit Pinsel und Farben erstellte. Bald half er ihm und konnte dadurch die neuesten Filme kostenlos anschauen, obwohl er für man-che eigentlich noch zu jung war. Fasziniert saß er neben dem rattern-den Filmprojektor und bewunderte die Stars jener Zeit.


Der Vater war noch jähzorniger als zuvor geworden, als er nach den Kriegsjahren heimkehrte. Nie sprach er von dem, was er in den Schützengräben erlebt hatte. Aber er trank nun gern und viel, was die Existenz der Familie einerseits finanziell noch mehr erschwerte und andererseits ein Klima von Angst entstehen ließ. Als der Junge seine Schulzeit beendet hatte, erklärte er , dass sein Berufswunsch schon fest stehe und die Lehrstelle dazu ihm sicher sei. Der Vater holte aus und schlug so fest zu, dass er dem Halbwüchsigen das Nasenbein brach. Der am übernächsten Tag traurig und ergeben in der Fabrik erschien und fortan eine Lehre zum Elektriker machte. Ein Beruf, den er in der Folge fünfzig Jahre lang ungeliebt ausüben würde.


Er heiratete früh und wohnte anfangs noch bei den Eltern, da das Geld knapp war. Niemand in der Familie war politisch interessiert und sich klar darüber, dass eine ganz andere Zeit fast unmerklich aber unumkehrbar herangebrochen war. Plötzlich spielte es eine große Rolle, dass die Mutter Jüdin war. Und ihre drei Söhne somit "halbjü-disch". Schikanen begannen. Das Radio musste abgegeben werden (ein großer Verlust, da einzige Informationsquelle). Der Familienhund. Ebenfalls ein Schmerz. Anderes folgte, wie z.B. das Fahrrad. Am Ende machte man dem Mann den dringlichen Vorschlag, sich ganz einfach per Unterschrift von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Was er auch sofort wahrnahm. Damit war sie praktisch "vogelfrei" und er heiratete binnen kürzester Zeit eine jüngere "arische" Nachbarin.


Der Sohn sorgte sich, was nun alles passieren könne, zog daheim aus in eine kleine Wohnung, wo er die Mutter zunächst versteckte. Inzwi-schen war er Vater von drei Mädchen, obwohl wie der Vater auf Jungs fixiert. Aber, das konnte man sich nun einmal nicht aussuchen. Als die Jüngste einen schweren Husten bekam, konnte der Arzt nicht helfen. War es Pseudokrupp? Ein Keuchhusten? Frische Luft würde helfen, war der einzige Rat. Der junge Vater kam auf eine Idee, die dem kleinen Mädchen helfen würde. Und zugleich der jüdischen Großmut-ter: Er brachte beide mitten in der Nacht in seine kleine Laube, wo er, wie damals viele Großstädter, Gemüse zog und Obst erntete.


Im Prinzip war die Idee gut, denn viele Berliner Juden (wie z.B. auch Hans Rosenthal) versteckten sich in den kleinen Behelfsheimen. Es geschah aber ein Unglück, mit dem niemand gerechnet hatte: das kleine Mädchen erstickte. Arzt und Polizei mussten geholt werden, was für die Großmutter eine besondere Gefahr bedeutet hätte. So packte sie ihre wenigen Sachen in einen Kopfkissenbezug und verließ die Gartenanlage. Niemand aus der Familie sah sie wieder, oder hörte etwas von ihr. Vermutlich wurde sie aufgegriffen, an irgendeinen fer-nen Ort verschleppt und umgebracht. Sie verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.


Die drei Söhne wurden in den kommenden Wochen vorgeladen. Sie galten der damaligen Rechtsprechung nach als "Halbjuden". Und man ließ ihnen die Wahl zwischen KZ und Wehrmacht. Die Entscheidung war in Wirklichkeit keine. Denn nur als Soldat hatte man überhaupt eine Möglichkeit zu überleben. Die beiden älteren Brüder kamen an die Ostfront und fielen bald, für Gott und Vaterland. Der Jüngste hatte Glück und verbrachte die Kriegszeit in Wien. "Gottseidank habe ich keinen einzigen Schuss abgeben müssen," sagte er später oft. Er hasste den Faschismus, den Krieg, jegliche Gewalt.


Als er heimkam nach Berlin fand er in der Wohnung einen anderen Mann bei seiner Frau und den verbliebenen beiden Töchtern vor. Es folgte die Scheidung und ein Umzug in die kleine Laube, die den Krieg überstanden hatte. Die Russen "herrschten" im Osten der Stadt und steckten den jungen Mann in eine Uniform, womit er zum Volkspoli-zisten wurde. Was er nie hatte sein wollen. Aber es gab nicht mehr viele gesunde Männer.


Berlin lag in Schutt und Asche. Und trotzdem lebten dort junge Men-schen, voller Lust auf Leben und eine nachzuholende Jugend. Musik hören wollten sie, tanzen, fröhlich sein. Partner finden. Ein ganz normales Leben führen, wie Menschen im Rest der Welt. Es war ein Freund, der von einem Tanzlokal erzählte, alles notdürftig hergerich-tet, aber hübsche Mädchen seien dort anzutreffen. Man entschied also, am Wochenende in den wieder eröffneten "Wintergarten" zu gehen und zu "schwoofen", wie der Berliner es nennt.


Tatsächlich lernte er eine hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren kennen, in die er sich rasch verliebte. Sie hatte leider eine Tochter (und keinen Sohn), aber das Mädchen war nett. Nur sehr still. Traumatisiert. So hatte es der Arzt genannt. Die Flucht im Krieg nach Polen und von dort aus in Richtung Alpen mit all' seinen Begleiter-scheinungen hatte das Mädchen als Kleinkind nicht verkraftet.


Wie viele andere im Osten "eingesperrte Menschen" zog es auch die-ses junge Paar in den Westen, mit seinen Freiheiten und Möglichkei-ten. Tränenreich verabschiedeten sie sich von ihren Familien (in dem Gedanken sie vielleicht nie wiederzusehen) und schlugen sich über Westberlin bis zum Ratzeburger See durch. Den sie mit Hilfe von Fluchthelfern per Kanu überquerten, um in das Land zu gelangen, das sie nur den "Goldenen Westen" nannten und von dem sie sich eine bessere Zukunft versprachen (wie sich doch wieder die Bilder glei-chen).


Niemand wartete dort auf sie. Denn auch die westlichen Bundesländer waren mit Flüchtlingen überfüllt, gut bezahlte Arbeit kam es kaum und Wohnraum schon gar nicht. Wieder war das Mädchen mit den langen Zöpfen auf der Flucht. Erneut wollte sie niemand. Schliefen sie manchmal in Ruinen, dann wieder in Hausfluren. Von München bis Hamburg lernten sie Deutschland kennen. Unfreiwillig. Bis ein Sozial-demokrat (in deren Büros gab es immer für Mitglieder eine Art "Über-brückungsgeld") sagte, im Ruhrgebiet entständen viele große Werke, in Dortmund z.B. HOESCH, dort suche man Elektriker händeringend.


Sie hatten Glück. Endlich. Wurden "einquartiert" bei einer Kriegswitwe in ein winziges Zimmer mit 9 Quadratmetern, zwei schmalen Luft-schutzbetten, einem Stuhl, einem kleinen Schrank. Über Nacht muss-te noch das alte Fahrrad mit hinein, ein damals wertvoller "Schatz", um zur Arbeit zu kommen. Bald erschien das Jugendamt. Zwei unver-heiratete Menschen mit einem Kind, das war verboten. Der Kuppelei-paragraph existierte noch. Also heiraten die beiden Flüchtlinge. Ein Anfang war gemacht. 


Bald wurden kleine Werkswohnungen gebaut und der Familie wurde eine zugeteilt. Wohnküche, Schlafstube, Bad und Flur waren wie ein Palast. Alles hätte gut werden können, wenn die Frau nicht schwanger geworden wäre. Nun hatten sie es gerade ein wenig geschafft, waren fast vierzig Jahre alt und sollten noch einmal Eltern werden? Dieses Kind musste weg. Eine "Engelmacherin" wurde geholt (die Namen gaben die Frauen unter sich weiter). Sie erschien mehrfach. Aber das Kind überlebte und kam zur Welt. Es hatte nur eine kleine Narbe. Und große, dunkelbraune Augen.


Ein paar Jahre später fuhr es im "Frosch" mit seinem Bären im Arm nach Ostberlin und stieg zum ersten Mal die alten Holzstufen zur Großmutter (und zum Großvater) hinauf. Zum fünften Stock, im drit-ten Hinterhof. "Du hast aber schöne braune Augen, ganz wie dein Vater", sagte die alte Frau mehrfach eindringlich und schaute dabei immer wieder zur Tochter. Erst jetzt, da diese Geschichte entsteht, wird deutlich, dass die Großmutter um das Geheimnis, dass das Kind umgab, vermutlich gewusst hat. Denn ein Russland - Heimkehrer hatte sie vier Jahre zuvor nach ihrer Tochter gefragt. Und sie hatte ihm die neue Anschrift im Westen gegeben.


Sie war nun sehr alt. Aber weise und aufmerksam. Sah vermutlich etwas, das anderen nicht klar war. Sie sah ein zierliches kleines Mäd-chen, mit großen, fragenden Augen, das niemand liebte. Und ent-schied es zu behüten und zu beschützen, so gut es aus der Ferne eben möglich war. Und das war leider auch dringend notwendig!


Dies ist die Geschichte meines Vaters. Und somit auch meine eigene.


- Wird fortgesetzt -

06.07.2022