Mein Leben hätte ganz anders verlaufen können.

Wie das jedes anderen Menschen auch.

Irgenwann hören wir auf darüber nachzudenken.

"Es ist, wie es ist. Weil es war, wie war."

Irgendwann einmal habe ich diesen Satz geprägt.

Weil er so verflixt zutreffend ist...

 

Warum denke ich gerade am heutigen Abend darüber nach?

Weil ich badefrisch und einigermaßen gut gelaunt bin.

Fast wie ein Teenager in "sturmfreier Bude".

Was fange ich nur damit an? Alte Songs zu hören bietet sich an.

Lange her, dass... Überhaupt lange her - das Leben.

Auf 'nem Sofa zu hocken und zu häkeln kann es jedenfalls nicht sein...

 

So überlasse ich youtube die Auswahl, mir etwas vorzuschlagen.

Die kennen mich besser, als ich mich selbst.

Computerhirn eben. Reine Analyse. Na dann los!

Ich drehe die (winzigen) Lautsprecher am Tablet auf.

Der erste Titel bringt mich nicht auf's Parkett, äh Laminat.

Aber der nächste, da hält mich nichts mehr...

 

In meinem zu gut ausgestatteten Hirn dreht sich die Zeit zurück.

Um ca. dreißig Jahre. Und ein Leben "bevor".

Aus dem Ruhrgebiet bin ich in mein erstes eigenes Haus gezogen.

Doppelhaushälfte. Sanierungsbedürftig. Nachbarn siebzig plus.

Ostfriesen. Mit Teestunde. Stricken. Seniorenturnen.

Mach' ich alles brav mit - will ja dazugehören.

 

Neben der Arbeit habe ich noch zwei Kids im Teenageralter.

Und eben das neue traute Heim, seit Jahrzehnten unrenoviert.

Also Bankkredit, Baumarkt und aufgekrempelte Ärmel, oft abends.

Irgendwann zeigt mir die Nachbarin ' nen Vogel.

Da throne ich gegen Mitternacht auf nacktgemachten Deckenbalken.

Brav. Mutter. Handwerkerin. Geldauftreiberin (Nebenjob Wochenende Norderney)

 

Das Nachbarjungvolk meckert. Meine Schuhe sind zu bequem.

Überhaupt man ganzer Look völlig aus der Zeit. Die Frisur auch.

Und der Musikgeschmack erst - nö, was gerade so abgeht, das kenne ich nicht.

Ich hab' ganz andere Sorgen. Z.B. Fliesenkleber auf Handflächen.

Pubertierende Kids. Das Gymnasium duldet keine mit Hut auf'm Kopf (Töchting).

Und Söhne ohne Hausaufgaben auch nicht. Beide hochbegabt, Mist...

 

Der Schulpsychologe lernt uns als komplette Familie kennen.

Der verstorbene Vater fehlt. Die Mutter wird zur Glucke erklärt.

Freiheit ist angesagt. Ich solle mehr unternehmen. Ohne Kinder.

Na super. In einer Kleinstadt wie Norden-Norddeich. Was tun?

Eine Freundin (auch aus dem Ruhrgebiet) weiß Rat.

Yogakurs. Currywurstbude. Diskothek.

 

Der Kurs wird absolviert, die Wurst verzehrt. Aber 'nen Tanzschuppen?

Ganz sicher nicht! Dafür hab' ich gar keine Klamotten! Null Frisur.

Und dann diese gräßliche Mucke, die schon die Kids immer dudeln!

Die Freundin gibt nicht auf, steht abends vor der Tür.

Das Töchting toupiert mir die langen Haare zu Sonne, auweia.

Kleidung? Schwarze Hose ist gut. Grüne Seidenbluse auch.

 

Ab geht's im Rancho zur Diskothek, so sieht uns keiner!

Stockfinster ist's in der Hütte, ich seh' die Hand vor Augen kaum.

Wir stolpern an den Tisch gleich neben der Tür (fluchtgeeignet!).

Ein Kellner fragt nach Getränken. Was gibt es denn? Nix kenn' ich davon.

Also ein kleines Bier, das ist auch nicht so teuer, ich bleib' ja nicht!

Das Cognacmixgetränk der Freundin landet auf meinem Outfit. Toll!

 

Dann diese lautstarke Musik, man kann sich gar nicht unterhalten.

Könnte man die vielleicht etwas leiser...  Der Diskjockey verneint.

Und droht damit, dass es lauter würde. Ab Mitternacht.

Macht nix, das ist ohnehin meine deadline. 1 Stunde war versprochen.

Ich sehne ihr Ende herbei, zumal die Bude sich füllt. Mit Männern!

Einer pirscht sich hinter mich. Ignoriere ich. Ein Rücken sieht nichts...

 

Die Freundin aber: "Da möchte jemand mit dir tanzen!"

Na und? Was interessiert mich, was der möchte?

Ein Ostfriese. Ziemlich groß, schlank. Bunt gewandet. Und redegewandt dazu.

Gegen Mitternacht tut es einen Schlag, die Musiklautstärke verdoppelt sich.

Meine schlechte Laune auch, aber gleich darf ich ja die Stätte verlassen.

Der lästige Verehrer steht immer noch herum, den räum' ich aus dem Weg...

 

Wildentschlossen fauche ich ihn unerwartet an. Wenn er denn unbedingt wolle.

Dass ihm jemand auf den Schuhen herumtrample, er zum Gespött würde...

Der Typ schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht mit den Worten:

"Keine Sorge, mit mir kann jede Frau tanzen!" So ein fieser Kerl!

Ich renne wütend zur runden Tanzfläche, er kommt kaum hinterher.

An den Rest der Nacht erinnere ich mich dann nicht mehr so genau...

 

War es das halb ausgetrunkene Bier? Waren es diese Augen?

So blau wie der ostfriesische Himmel an guten Tagen. So unglaublich schön.

Man macht uns Platz. Wir tanzen bis zum Morgen.

Und uns in der Folge an fast jedem Wochenende durch die Diskos der Region.

An Silvester. Am 1.Mai. Und überhaupt bei jeder Gelegenheit.

Segeln mit seiner großen, komplett selbstgebauten Yacht.

 

Es ist eine glückliche Zeit. Voller Lebensfreude. Und Ausgelassenheit.

Er ist Handwerksmeister und Inhaber eines Ladens mit Sanitätswaren.

Alles scheint zu passen. Und ist doch voller dunkler Wolken.

Ich verkaufe mein Haus und erwerbe das in Emden.

Er leidet. Und ich spüre es. Seine Freunde sprechen mit mir. Ich verstehe.

Dass sein Leben so ganz anders ist als meines. Ich werde keine Ostfriesin sein!

 

Und treffe einen fatalen Entschluß. Liebe verzichtet, sonst ist es keine.

Ich werde ihn loslassen, damit er nicht aus seinem Leben gerissen wird!

Als er am Abend anruft belüge ich ihn: "Hab' jemanden kennengelernt!"

Er weint: "Das ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein!" Ich schmücke aus.

Als wir aufgelegt haben schreie ich. Laut und verzweifelt im Treppenhaus.

Mein Sohn stürzt herbei, hält mich tröstend die halbe Nacht auf den Stufen...

 

So entscheiden sich Schicksale.

Würden wir heute noch tanzen, lachen, herumalbern?

Vermutlich nicht. Wir wären in Werkstatt, Laden und Arbeit aufgegangen.

Oder? Würden heute noch immer Gelegenheiten suchen.

Über Tanzböden zu schweben, uns lachend auszutoben, mit 60plus.

Heute höre ich unsere Songs. Sie sind nach dreißig Jahren geblieben...

 

Nicht immer bekommt man was man möchte.

Und vielleicht brauchen würde.