Die Beine und Füße schmerzten. Wie lange waren sie schon unterwegs? Seit es hell geworden war. Die Mutter war aufgestanden, als es auch die anderen Menschen in der Scheune mit dem undichten Dach taten. Es war kalt, in der sternklaren Nacht hatte es erneut geschneit und der Boden war gefroren, da half das schüttere Heu als Schutz rein gar nichts. Wie viele Flüchtende hatten sich wohl schon darauf gebettet?


In der Ferne war Geschützdonner zu hören. Wenn er ausblieb, erlangten die vielen über die Straßen ziehenden Flüchtlinge ein wenig an Hoff-nung. Vielleicht würden sie etwas Zeit gewinnen, bevor der russische Vormarsch gen Westen wieder bedrohlich näher kam. Schreckliches hör-te man immer wieder, von Gräueltaten, die eingeholten Fliehenden an-getan wurden. Es galt also sich vorwärts zu schleppen, so schnell es eben ging.


Die Menschen zogen schweigend dahin. Nur die kleinen Kinder weinten manchmal. Der Hunger tat weh, den Müttern auch, denn die meisten hatten nichts, was sie zum Trost hätten geben können. Manche waren selbst so ausgezehrt und schwach, dass man glauben konnte, sie wür-den irgendwann einfach zusammenbrechen und nie mehr aufstehen. In manchen Fällen geschah das auch und die Kinder blieben bei ihnen sit-zen, da sie zu klein waren, um die Situation zu verstehen. Im besten Fall nahm sich jemand ihrer an, aber das war nur selten der Fall. Jeder hatte sein eigenes Schicksal und versuchte sein Leben zu retten, irgendwie der russischen Armee zu entkommen.


Die Ortsschilder lasen die Menschen kaum noch, denn die darauf ste-henden Namen sagten ihnen meistens nichts. Hier waren sie nie zuvor gewesen und wollten auch nicht bleiben. Sie zogen mit gesenktem Blick die Landstraßen entlang, der schier endlosen Schlange von Menschen vor ihnen hinterher. Manche hatten das Glück mit der notwendigsten Habe auf Leiterwagen fahren zu können. Bis ein Rad streikte, oder das Zugpferd den Dienst verweigerte. Auf die Tiere, die mit vom Tod aufge-blähten Leibern an den Straßenrändern lagen, achtete schon lange nie-mand mehr. Auch nicht auf all' die toten Menschen, verhungert, von Krankheiten wie der Ruhr dahingerafft, oder niedergemäht, wenn wieder einmal die Tiefflieger auf alles geschossen hatten, was irgendwie ein Lebenszeichen von sich gab.

Das kleine Mädchen entschied irgendwann der Mutter nicht mehr zu folgen, wenn sie bei solchen Angriffen die wenige Habe fallen ließ, das Kind packte, in den Straßengraben stieß und sich schützend darüber warf. Manchmal flogen die Maschinen so niedrig, dass man die Gesichter der Piloten und Schützen sehen konnte, die Maschinengewehrgarben auf die Schutzsuchenden abfeuerten. Etliche der Getroffenen standen nicht mehr auf, wenn der Spuk vorbei war. Sie schliefen jetzt für immer, sagte die Mutter. Und das Kind dachte: "Haben sie es nicht viel besser als wir?"


Manchmal wich die Mutter vom Wege ab. Weil sie irgendwo an der Seite ein Haus entdeckt hatte. Offensichtlich auch zerbombt. Und verlassen. Aber sie hatte gelernt, dass manchmal dort noch etwas zu finden war. Eine warme Mütze, eine Jacke, Schuhe, die mehr schlecht als recht passten. Aber noch heil waren. Ab und zu fanden sich auch wahre Schätze. Reste von Eingemachtem etwa, das noch genießbar war. Dann aßen sie andächtig mit den Fingern und leckten sie hinterher aufmerk-sam ab, um rein gar nichts zu verschwenden.


Ein besonderer Glücksfall bestand darin, haltbare Lebensmittel zu fin-den. Einmal entdeckte die Mutter ein Vorratssäckchen mit Zucker. Eine kleine Aluminium-Milchkanne für Wasser. Und einen verbeulten Tee-löffel. Wenn das Mädchen nun bitterlich weinte und vor Schwäche kaum noch gehen konnte, erhielt es einen Löffel voll Zucker. Und bettelte alle Stunde darum, oft ohne etwas zu erhalten. Trotzdem ging der beschei-dene Vorrat alsbald zu Ende, denn auch die Mutter nahm sich ab und zu etwas. Brauchte sie doch Kraft, um nicht aufzugeben und das Kind im-mer wieder neu zu motivieren. Als der Zucker endgültig zur Neige ging, wurde der Rest in die Kanne geschüttet und das so entstandene Zucker-wasser half noch einmal für zwei Tage weiter.


Die Flüchtlinge hatten längst aufgehört sich irgendeine Zukunft vorzu-stellen. Zu überleben war das Ziel. Um einen Ort weit entfernt von der Kampflinie zu finden, an dem man in Sicherheit sein würde, oder sich wenigstens etwas ausruhen konnte. An eine fernere Zukunft wagte kaum jemand zu denken. Es zählte nur "heute". Von der Front kamen längst keine Informationen mehr. Die russische Armee würde siegen, das stand fest. Jeder war auf sich selbst gestellt. Um zu überleben. Einen Tag. Wie-der einen. Und den nächsten.


Den Männern in den Soldatenuniformen konnte niemand helfen. Manche würden den Krieg überleben, andere nicht. Gerechtigkeit gab es keine. Nur eine grausame Realität. Das Mädchen kannte keine andere. Als sie ein Kleinkind war, da kamen die Bomber nach Berlin. Tage und Nächte verbrachte sie in Luftschutzkellern. Ein gepackter Handkoffer mit dem Nötigsten und den wichtigsten Papieren stand stets griffbereit an der Wohnungstür. Die Bomben fielen oft in der Nacht, dann stürzten die schlafmüden Menschen zu den überfüllten Bunkern.


Als mehr und mehr der Mietshäuser in Schutt und Asche versanken, war die Mutter mit ihrem Kind gen Osten geflohen. Dort war noch scheinbar heile Welt. Viele schöne Stadthäuser, ja ganze Villen standen leer. Offen-bar freiwillig von ihren Bewohnern und Besitzern verlassen. Das "Herren-volk" nahm sich, was ihm nach eigener Meinung zustand. Bis sich das anfängliche Kriegsglück wandelte. Waren es zuvor die rechtmäßigen Ein-wohner der Dörfer und Städte, die man "im besten Fall" vertrieben, im öfter vorkommenden aber brutal ermordet hatte, so wendete sich nun das Blatt. Jetzt liefen jene um ihr Leben, die es anderen zuvor genom-men hatten. Wie und von wem hätten sie auch Gnade erwarten können?!


Die jungen Kinder trugen keine Schuld an den Geschehnissen, aber nun an den Folgen mindestens genauso schwer, wie die Erwachsenen. Wenn nicht noch mehr. Denn sie hatten fast ihr ganzes Leben noch vor sich und diese ungeheure Last in ihrer Seele entsprechend lange zu tragen. Viele bis zum Tod. Doch solche Gedanken spielten in jener Zeit noch keine Rolle. Nur das nackte Leben an sich. Dieser Tag. Diese Stunde. Der jetzige Moment.


In eben einem solchen wurde ein Brunnen gefunden, der noch sauberes Wasser aufwies. Alle Flüchtlinge stürzten sich regelrecht darauf. Mutter und Kind auch. Die Porzellanpuppe (das einzige mitgenommene Spiel-zeug) wurde vorsichtig abgesetzt, um mit beiden Händen aus dem auf den Boden gestellten Eimer trinken zu können. Da geschah das Unglück: Die Puppe kippte um und stürzte tief hinab in den Schacht.


Der Porzellankopf zerbrach an den Steinen und das Mädchen schrie und schrie und schrie, als habe es den Verstand verloren. Fortan sprach es kaum mehr. War oft nicht ansprechbar, als sei das kleine Hirn in fernen, sicheren Welten. Immer wieder trat Schaum vor dem Mund auf, als sei das Kind an Tollwut erkrankt. Ärztliche Hilfe gab es nicht. Psychologi-sche schon gar nicht.


Das Leben war bei Kriegsende gerettet, das war alles was zählte! Aus dem sicheren Tirol, wo das Kriegsende erlebt wurde, gingen Mutter und Kind nach Ostberlin zurück. Der Vater war als vermisst gemeldet, aber lebte in Westdeutschland. Das Mädchen konnte sich auch gar nicht an ihn erinnern, da es bei Kriegsbeginn erst drei Jahre alt gewesen war. Die Großeltern und Tanten waren Fremde. Beide Onkel auf der Krim "gefal-len" (was für ein zynischer Begriff ist das überhaupt?!).


Die Mutter musste nun in einer Großküche für die Russen kochen, das Kind tagsüber allein zurückbleiben. Welche Ängste es wohl dort zwi-schen all' den Trümmern überfielen?! Manchmal sang es ein Kinderlied, das es immer der Puppe vorgesungen hatte, damit sie einschlafen konnte. Half es nun sich selbst?


Wieder eine neue Schule. In einem dritten Land. Erst Polen, dann Öster-reich, nun Ostdeutschland. Mit Russischunterricht. Als die Mutter zum ersten Mal nach Kriegsende in den notdürftig reparierten "Wintergarten" zum Tanzen ging, lernte sie einen Mann kennen. Der tüchtig und hand-werklich war. Mit ihm und einem Fluchthelfer flohen Mutter und Tochter über den "Ratzeburger See" in die Freiheit des Westens.


Wieder ein Anfang, erneut ein "fremdes" Land, ein völlig anderes Schul-system. Der Volksschulabschluss soll reichen, obwohl das Mädchen klug und begabt ist. "Es heiratet ja sowieso", ist die Begründung der Mutter. Und der Stiefvater (inzwischen wurde geheiratet, dem moralischen Zwang dieser Jahre gehorchend) beklagt jeden Tag die Kosten, die ein Teenager nun einmal verursacht.


Die Lösung steht in den noch recht spärlich erscheinenden Zeitungen. "Haustochter gesucht" inseriert jemand und die Mutter ist begeistert. Denn diese Stelle wird für die Schweiz angeboten. Sollte ein weiterer Krieg ausbrechen, wäre es gut dort einen Angehörigen zu haben! Für "Kost, Logis und ein Taschengeld" wird die Jugendliche also in ein erneut fremdes Land verhökert. Und tatsächlich vorher noch eine Nasen-Op durchgeführt, um die Optik zu verbessern. Sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit, so kurz nach dem zweiten Weltkrieg.


Im Villenhaushalt lebt auch der sechzehnjährige Sohn der Besitzer. Es entwickelt sich, wie es wohl kommen musste. Beide verlieben sich, ma-chen erste sexuelle Erfahrungen. Bis irgendjemand dahinter kommt. Wer gehen muss ist klar! Das Mädchen schämt sich in Grund und Boden, so-zusagen "in Schande" zu Mutter und Stiefvater zurückkehren zu müssen. Zumal dort inzwischen ein Schwesterchen geboren wurde und nun erst recht kein Platz mehr ist. Die "erste Liebe" ist brutal zerstört. Eine Zu-kunft kann es nicht geben.

Am Morgen der verordneten Abreise wird das Mädchen in seinem Blut in der Dachkammer aufgefunden. Es hat sich in seiner Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten. Die Ärzte im Krankenhaus geben sich Mühe den jungen Menschen zu retten, der noch fast ein ganzes Leben vor sich hat. Sie können nicht wissen, dass es nur der erste von vielen Suizidver-suchen war, die noch folgen werden. Niemand kann all' die Traumata auflösen, die einem Kind zugefügt wurden, das einmal von Tod und Zerstörung umgeben war. Mehrere Jahrzehnte später, nach etlichen weiteren Selbstmordversuchen, ist endlich einer erfolgreich.


Es ist die Geschichte meiner großen Schwester Christa, der kein Arzt helfen konnte. Zugleich gewidmet den Flüchtlingen der Ukraine, die jede Hilfe brauchen werden. 

Um überleben zu können. Nicht nur heute, sondern ein Leben lang.

30.03.2022








Kerenza Peacock ist Geigerin und 42 Jahre alt.
Sie spielt in einem berühmten Orchester Geige.
Im London Symphony Orchestra.


Kerenza Peacock ist mit anderen Geigern und Geigerinnen befreundet.
Auch mit Geigern und Geigerinnen aus der Ukraine.
Kerenza Peacock war in Sorge um ihre Freunde und Freundinnen.
Sie hat Kontakt mit ihnen aufgenommen.


Die befreundeten Geiger und Geigerinnen aus der Ukraine haben Kerenza Peacock geschrieben.
Sie haben geschrieben:
Sie sind in Sicherheit.
Sie sind in Schutzräumen im Keller.
Und sie haben ihre Geigen mit in den Schutzräumen.


Kerenza Peacock hatte eine Idee.
Sie hat ein Friedenskonzert für die Ukraine geplant.
Geiger und Geigerinnen auf der ganzen Welt sollten dabei mitmachen.


Illia Bondarenko ist ein Geiger aus der Ukraine.
Er hat ein Video von sich selbst aufgenommen.
Er spielt auf seiner Geige.
Er konnte das Video nur zwischen den Bombenangriffen aufnehmen.
Sonst konnte er sich selbst nicht spielen hören.


Illia Bondarenko hat sein Video an Kerenza Peacock gesendet.
Und sie hat es an Geiger und Geigerinnen auf der ganzen Welt weitergeschickt.
Sie haben auch Videos von sich beim Geigespielen gemacht.
In den Videos haben sie das Lied von Illia Bondarenko begleitet.
So konnten sie zusammen Geige spielen.
Auch wenn sie alle an anderen Orten auf der Welt sind. 


94 Geiger und Geigerinnen haben bei dem Friedenskonzert mitgemacht.
Sie kommen aus 29 verschiedenen Ländern.


Die Geiger und Geigerinnen spielen alle das Lied: Verbovaya Doschechka.
Übersetzt heißt das: Weidenbett.
Es ist ein altes ukrainisches Volkslied.
In dem Lied geht es um den Frühling und die Liebe.


Jetzt gibt es ein Video mit dem Friedenskonzert.
Oben kann man es sehen.


(Text zum Video entnommen: EINFACHSTARS.info Eine Haftung zum link kann ich nicht übernehmen)