Acht Jahre ist mein erster Jakobsweg nun her. Unfassbar. Mir ist, als wären erst drei Jahre vergangen, al- lerhöchstens vier. Unfreiwillig aus meinem Berufsleben gestoßen zu sein hatte mich der Dunkelheit, Bedeu- tungslosigkeit und Armut überantwortet. Doch mit dem Camino lief ich ins Leben zurück. Und ganz am En- de zur Liebe... Von Männern hatte ich die Nase voll und erst recht von Beziehungen, zehn Jahre lang fast wie Dornröschen geschlafen. Nun traf ich IHN. Und tanzte mit meinem Prinzen für ganze achtundvierzig Stunden im Schloss, ohne zu verraten wer ich war. Doch es gab wie im Märchen einen gläsernen Schuh...

Später niedergeschriebenes Tagebuch ("Die andere Häfte der Muschel"), Kapitel zum 22.05.07:

 

Die Musik vom Riesenrad wehte durch's offene Hotelzimmer herein...

Wir beschlossen am frühen Nachmittag zu duschen und die Stadt zu erobern. Was sich direkt vor unserem Fenster darbot verlockte zu einem Bummel. Ein Traum war es nur, so empfand ich es. In jedem Moment konnte ich erwachen und lag in einem Her- bergsbett, tief hineingekrochen in meinen Daunenschlafsack. Würde hernach die Stie- fel anziehen um weiterzulaufen, wie an jedem Tag, seit eineinhalb  Monaten. Aber es war nicht so. Ich trug nur die leichten Sandalen, ein kurzärmliges Shirt, meine Kame- ra in der Außentasche der Wanderhose. Keine Pilger, mur Einheimische waren im Park unterwegs. Und irgendwie war das auch gut so. Zwischen all' den Familien und Paa- ren fühlten wir uns wie daheim. Brunnen, die Wasser versprühten, Bäume, bedeckt mit abertausenden von Blüten. Die Sonne schien warm, als wolle sie uns verwöhnen. Was kann man sich mehr wünschen, wenn man verliebt einher bummelt?!

Irgendwann standen wir vor dem Riesenrad. "Möchtest Du mitfahren?" Natürlich nick- te ich. Santiago von oben, das war's doch. Die Stadt sehen, deren Besichtigung ich mir so hart erkämpft hatte! Wir setzen uns in eine Kabine und fuhren langsam nach oben. GO griff  lächelnd nach meinem Arm."Weißt Du eigentlich, dass ich Höhen- angst habe, aber für Dich..." Woher sollte ich das wissen? Ich küsste ihn und sagte: "Alles ist gut!" Das Rad nahm Fahrt auf und begann sich zu drehen. Charthits dröhn- ten aus den Lautsprechern. Es war wie ein Rausch. Die Stadt ausgebreitet unter uns, die Bewegung, die Musik. Und ein tiefes Gefühl in mir, das ich gar nicht zu deuten wusste. Ein inneres Strahlen. Sich wohlfühlen. Den Himmel berühren können. Mein Arm am Gestänge zeigte mir die Uhrzeit, das erinnere ich noch sehr genau. Und auch meine Reaktion darauf: Jetzt bin ich glücklich und ich will nicht an morgen denken! Ein einziges Mal in meinem Leben will ich den Augenblick leben!!

Das riesige Rad nahm immer neuen Schwung und drehte sich weiter und weiter, als wolle es nie aufhören. Ich fotografierte. Das Häusermeer. Und auch ihn. Denn ich wollte mir die Erinnerung bewahren. Und sie mir zurückholen können ohne, dass diese Bilder mit der Zeit verblassen würden, oder sich verändern... Den zahlreichen Buden mit Leckereien widmeten wir nur einen kurzen Blick. Ich war froh wieder schlank zu sein und auch GO sagte, er habe so einige Kilos auf dem Weg abgebaut und sei froh, seinen "leichten Bauchansatz" nicht mehr zu haben. "Deine Töchter werden stolz sein", bemerkte ich. Er sah mich mit einem seltsamen Blick an, schüttelte den Kopf und antwortete: "Wenn ich das erwähne werden sie höchstens sagen, das wäre ganz genauso, als wenn ein LKW eine Zierleiste verloren hätte. Praktisch nichts! Aber da- für trage ich selbst die Verantwortung! Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus..."

Ich konnte das kaum nachvollziehen, denn ich wusste, wie sehr meine Kids sich mit mir freuen würden... Wir bummelten hinüber zur Altstadt und blieben bei einem Clown stehen, um den sich ein großer Kreis von kleineren Kindern mit ihren Müttern versam- melt hatte. Auch wenn man nicht allzu viel verstehen konnte, war es möglich, sich den Sinn zusammenzureimen. Die Kleinen wurden einbezogen und machten ihre Sa- che mehr oder weniger gut. Wir standen fest umarmt dabei, als säßen unsere Kinder dazwischen und lachten aus tiefstem Herzen.
Es war schön GO so fröhlich zu sehen, nach den Tränen vom Vormittag. Immer wie- der sah ich ihn verstohlen an und freute mich darüber, wie ausgelassen er sein konn- te. Und immer wieder küsste er mich und sagte, es seien die glücklichsten Stunden seines Lebens. Ich nickte, um zu bestätigen, dass es auch für mich nicht anders wä- re...

Erst um unsere Compostela abzuholen, die Urkunde die jeder Pilger erhält, wenn er mindestens die letzten 100 km des Jakobswegs zu Fuß gegangen ist, betraten wir wieder den Bereich um die Kathedrale. Die Schlange im sogenannten Pilgerbüro war um diese Zeit nicht besonders lang und wir kamen recht zügig in die erste Etage des historischen Hauses, wo an mehreren Tresen ernste Prüfer saßen, die unsere Pilger- pässe begutachteten.
Ein letztes Mal galt es, sich in Listen einzutragen. "Grund des Pilgerweges", stand da, z.B. Und ich kreuzte an "religiös", denn für "Gelöbnis" gab es keine Spalte. Gegen die Spende eines Euros erhielt ich die Urkunde in lateinischer Sprache und lächelte, weil ich darin "Gabrielum" hieß. Daraus konnte ich GO's Namensänderung erraten und fand das äußerst lustig. Gegen Zahlung eines weiteren Euros erwarb ich eine weiße Papp- hülse mit Muschelaufdruck und wusste die Urkunde nun im Rucksack gut geschützt.

Wir brachten unsere Rollen heim, holten GO's Kamera und machten uns noch einmal zur Kirmes auf. Inzwischen war es dunkel geworden. Ich wusste, dass die Zeit nicht anzuhalten war und versuchte  doch ihren Fortgang zu leugnen. Begeistert sah ich hinunter auf die erleuchtete Stadt zu unseren Füßen, tanzte in den Wolken und be- mühte mich nicht zu denken. Der Wind wehte uns die Haare aus dem Gesicht und ich stellte mir vor am Meer zu sein und die Brandung zu hören. In Finisterre wartete es auf mich, aber darüber wollte ich noch nicht nachgrübeln. Wenn es sein sollte, würde ich dort hinkommen. Jetzt, in diesem Moment, da war es nicht wichtig.
Was zählte überhaupt? Dieser Tag. Diese Stunde. Jede Minute. Der Augenblick! Wir belogen uns erfolgreich. Und zogen unbemerkt in den absoluten Außenbereich der Alt- stadt. Wo es keine Pilger gab. Ich achtete gar nicht darauf. Warum auch? Der einzige Mensch, der mir wichtig war, hielt mich im Arm. Ich brauchte niemanden sonst.

In einer kleinen Bar belegten wir einen runden Tisch und GO plünderte hungrig die Tapas–Auswahl. "Magst Du nichts?" Ich verneinte entschieden. Allein Anblick und Ge- ruch der Speisen machten mir zu schaffen. Denn wenn auch mein Kopf leugnete, dass der Zeiger der Uhr unaufhaltsam vorwärts schritt, so wusste mein Herz es doch ganz genau. Und wenn ich traurig bin kann ich rein gar nichts essen. GO fragte mich immer wieder und konnte meine Ablehnung überhaupt nicht verstehen. Ich wollte uns den Abend nicht verderben und vermied es, ihm die Gründe für mein Verhalten zu erzäh- len. Was sollte er von mir denken?!
Leider betrat dann ein Pilgerpaar in unserem Alter das Restaurant und begrüßte mich herzlich. In irgendeiner Herberge unterwegs waren wir uns einmal über den Weg ge- laufen. Sie nahmen es als selbstverständlich an, dass wir ein Ehepaar seien und frag- ten, ob wir auch am nächsten Tag nach Finisterre führen. Ich versuchte, auswei- chend zu antworten, denn ich wollte nicht lügen. Zugleich wurde ich unliebsam an die Frage erinnert, was aus mir werden würde, ab kommendem Tag...

Das Schicksal geht seltsame Wege. Oder weiß es ganz genau, was es tut? Hatte ich unbewusst um Hilfe gerufen? Oder brauchte ich das gar nicht? Keine Herbergsverrie- gelung begrenzte nun unsere Zeit. Wir bummelten durch die verschlungenen Gassen langsam zurück, in Richtung Kathedrale. An sich abgelegen und fern des Viertels, in dem die Pilger feierten. Ihren Weg erfolgreich beendet zu haben. Noch einmal  Freun- de vom Weg zu treffen. Den Abschied vom Ziel zu genießen, dem man so lange ent- gegen gestrebt war.
Wir befanden uns gänzlich auf der entgegengesetzten Seite. Ohne, dass ich mir da- mals Gedanken darüber gemacht hätte. Erst zwei Jahre später, im Juni 2009, als es ganz anders war. Weil ich nach meinem dritten vollendeten Jakobsweg in einem gro- ßen Trupp von Pilgern feierte und wir von einem Lokal ins nächste zogen. Und in den frühen Morgenstunden tanzte ich mit John, meinem Weggefährten auf dem Kathedra- lenplatz, wo sich eine große Anzahl ausgelassener Pilger um eine Gruppe von Musi- kern scharrte. John suchte geradezu die Menschen, war stolz darauf mich vorzuzeigen und mit mir in der Öffentlichkeit zu sein. Welcher Unterschied...

Doch davon ahnte ich nichts, an diesem späten, warmen Maiabend 2007. Und auch nicht, wen wir treffen würden, auf einem kleinen, verlassenen Platz. Denn dort stand: Fee! Den ganzen Tag über hatte sie vergeblich nach mir gesucht und fragte sich jetzt, was denn werden solle. Es war Dienstagabend und sie hatte ihren Flug für den Samstag gebucht. Als wir aus der Seitengasse traten, ertönte ein lauter Aufschrei, dann hing eine weinende Frau in roter Wanderjacke an meinem Hals und erzählte mir ohne Punkt und Komma eine traurige Geschichte. Die Weggefährtin, mit der sie sich wochenlang nur gestritten hatte, war nach einem "Fehltritt" im Krankenhaus gelandet und würde von dort aus direkt zum Airport gebracht werden.
Daher hatte meine ehemalige Begleiterin verzweifelt nach mir gesucht. Und von allen Seiten nur gehört, ich sei urplötzlich vom Weg gänzlich verschwunden, niemand habe mich mehr gesehen...

Fee fragte mich so ungefähr zehn Sachen auf einmal, die ich zu beantworten versuch- te und am Ende: "Wer ist das eigentlich?" Damit zeigte sie auf GO, der von der Ent-wicklung völlig überrascht war. Ich nannte ihr trocken den Vornamen und beant- wortete die Frage, ob wir gemeinsam zum "Ende der Welt" fahren würden wahrheits- gemäß. Fee war glücklich. Dann, könnten wir doch?! GO nickte sofort. Ja, natürlich, das befand er als die ideale Lösung. Auf diese Art hätte ich einen Anstandswauwau dabei und alles wäre geregelt.
Fee lachte und weinte durcheinander und fragte, ob sie ein Foto machen dürfe. Wir stimmten zu, sie setzte ihre Kamera in Betrieb und drückte ein einziges Mal ab. Man muss dazu wissen, dass 60% ihrer Bilder mindestens zur Hälfte schwarz waren. Und von den restlichen 40% die Hälfte unscharf. Was davon übrig blieb war ungewöhn- lich, um es vorsichtig auszudrücken. Sprich, ohne Beine oder Köpfe. Unser Foto aber war seltsamerweise großartig. Es fing unsere Stimmung ein. Und war lange Zeit das einzige gemeinsame Bild. Genaugenommen ein ganzes Jahr lang...

Wir beschlossen am Mittwoch den Pilger-Gottesdienst in voller Ausführung anzusehen und, dass ich mich mit Fee um vierzehn Uhr am Pferdebrunnen an der Kathedrale tref- fen würde. Sie winkte noch lange und zog strahlend von dannen. Wir etwas stiller, wohlwissend, dass  die Zeit lief. Und zwar gegen uns. Worüber redet man, am letzten Abend? Was ist wichtig, was nebensächlich? Es war klar, dass wir uns nie wiederse- hen würden. Ich wusste nicht einmal, wann und auf welche Art ich nach Deutschland zurückkehren würde. Merkwürdigerweise flogen sämtliche Freunde vom Weg mit der gleichen Maschine am Samstag von Santiago um 17.10 Uhr nach Mallorca. Erst dort wurde offenbar nach den Heimatflughäfen gesplittet. Seit Wochen waren diese Flüge ausgebucht, um sie möglichst kostengünstig zu erlangen.
"Was wird aus dir?" fragte GO, als ich in seinem Arm lag und die kühle Nachtluft uns unter die Decke schlüpfen ließ. Ich beantwortete die Frage offen und ohne nachzu-denken: "Es wird einen Platz für mich geben. So Gott will!" Schon Fee hatte über die- ses Vertrauen mehrere Male den Kopf geschüttelt. Sich gewundert, wenn auch noch eintraf, woran ich glaubte. Jetzt war es an GO  erstaunt zu sein. "Ich wünsche es Dir, aus tiefstem Herzen", sagte er und zog mich dicht an sich.

In dieser Nacht schlief ich kaum. Küsste ein ums andere Mal vorsichtig das Gesicht vor mir. Streichelte die widerspenstigen Haare aus der Stirn. Versuchte mir jedes noch so kleinste Detail im Halbdunkel einzuprägen. Zuckte zusammen, wenn wieder die dumpfen Glocken der nahen Kathedrale verkündeten, dass eine weitere Stunde vergangen war. Ich erinnere, dass ich dem Mann, der mich noch im Schlaf fest in sei- nen Armen hielt, stumm von mir erzählte. Alles das, was ich in der Helligkeit des Ta- ges nicht zu sagen gewagt hatte, in diese fragenden, blauen Augen mit den tief- schwarzen Wimpernkränzen. Ich hoffte, dass sein Herz nicht schlafen und mir insge- heim zuhören würde...

Als der Morgen graute wünschte ich mir, dieser Tag würde niemals fortschreiten.

Und ich müsste nicht die Glocke mittags zweimal schlagen hören.

Ich begann nicht nur die Stunden, sondern auch die einzelnen Minuten zu zählen.

Genau das, was ich nicht hatte tun wollen...

 

 

Es ist wie es ist, weil es war wie es war.

Und das wird sich nie ändern...