Es ist fast vier Jahrzehnte her, da fuhr ich für ein langes Wochende heim. Nach Berlin. Der Papa passte auf unsere Prinzessin und den verwunschenen Hasen auf. Ich erhielt zwei Anrufe in die Pension. Am ersten Tag: "Das Kind wollte den Rosenkohl nicht essen!" Nö, dann eben nicht. Welches Kind von nicht ganz drei Jahren mag dieses bittere Gemüse?! Am zweiten Tag kam (er- staunlicherweise) nichts. Am dritten Tag: "Der Hase hat sämtliche Kabel im Wohnzimmer durch-gebissen, telefonieren war unmöglich. Nun ist alles irgendwie geflickt!" Habe ich geschmunzelt? Ganz bestimmt. Wer lässt denn ein Nagetier ohne Aufsicht frei herumlaufen?

Das Wetter war schön. Frühlingshaft. Ich war zu Hause. Wenn auch im Westen. Hinter der Mau- er lebte meine Familie und befanden sich unsere Gräber. Immer fühle ich mich daheim, sobald ich diesen Boden betrete. Es sind "meine" Leute, sie sprechen "meine" Sprache, in die ich dann rasch verfalle. Weil ich das auch gern möchte. Vom Morgen bis zum Abend war ich unterwegs. Input. Leben. Aufsaugen all' der Eindrücke. Kuchen bei Kranzler. Tiere gucken im Zoo. Bummel über den Kudamm. Na klar! In einer Vitrine ein gerahmtes Gedicht. Berührend. Und so unend- lich wahr. Ich kaufte es und es hing lange an der Wand:

 

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht

des Lebens nach sich selber.

 

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch.

Und obwohl sie mit euch sind,

gehören sie euch doch nicht.


Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,

aber nicht eure Gedanken,

denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

 

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,

aber nicht ihren Seelen,

denn ihre Seelen wohnen im Haus der Zukunft,

das ihr nicht besuchen könnt,

nicht einmal in euren Träumen.

 

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

aber versucht nicht,

sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts,

noch verweilt es im Gestern.


Ihr seid die Bogen, von denen

eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und er spannt euch mit seiner Macht,

damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

 

Lasst euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein.

Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt,

so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

(Khalil Gibran)

 

Ich habe mich immer daran gehalten. Das hoffe ich jedenfalls. Auch wenn es manchmal schwer war und ich sorgenvolle Zeiten durchlebte. Nun merke ich, dass ich gerade Einspruch erheben und beschützen möchte. Doch das werde ich mit mir selbst ausmachen. "Liebe ist ein Kind der Freiheit", so sagt man. Beides gehört untrennbar zusammen. Ich habe viel Egoismus in Kindheit und Jugend erleben müssen. Nie so recht gewusst, wer ich eigentlich bin. Was ich eigentlich möchte. Welche Träume und Wünsche ich habe. Das ist mir nur mit einem Schwerthieb gelun- gen. Um den "Gordischen Knoten" auf alle Zeit zu durchtrennen. Einen Mittelweg gab es nicht. Mögen meine Kids so etwas nie erleben müssen. Ich ließe sie gehen. Selbst dann, wenn das Ziel Indien wäre.

 

Kinder sind nur Gäste in unserem Leben. Die nach dem Weg fragen.

Auch, wenn uns Eltern das schmerzt.

 

 

 

Und wir auf Flughäfen beim Abschied bittere Tränen vergießen. Es ist, wie es ist.