Was bedeutet schon Zeit, wenn wir jung sind?
Verschwenderisch viel, wir haben doch alles noch vor uns, 

ein ganzes, langes Leben...


Anfangs eilen die Jahre dahin, 

später sind's Jahrzehnte, was macht's?


An meinen Kindern sah ich, was Zeit bewirkt,
wie rasch so ein kleines Wesen groß wird.
Und eine Mutter neben ihm erwachsener.


Meine eigene starb, mein Mann, meine Schwester auch,
ich ging weit fort, in den Norden, 

es war an der Zeit.


Man steckte mich in einen Gastro-Grundkurs,
ein halbes Jahr, sinnfrei verbracht.


Ich suchte mir eine Stelle in einer Werkstatt,
bei einem Raumausstatter.
Sechzig Arbeitstunden pro Woche, halt Ostfriesland.
Ein Haus war auszubauen und abzuzahlen, was macht's also?


Im Umweltbildungszentrum folgte ein ökologisches Jahr.
Ich leistete dort Sozialarbeit, 

betreute Kinder-, Senioren- und Jugendgruppen,
setzte Pflanzen, zeichnete Insekten für Infotafeln.


Danach bekäme ich eine Festanstellung beim Umweltamt, 

so versprach man es mir.
An Weihnachten bekam ich eine Flasche Wein
und einen freundlichen Händedruck zum Abschied.
Ab April, da würde es dann ernst!


Im Winter beschnitt ich Kopfweiden,
markierte zu fällende Bäume,
renovierte das Bauernhaus des Biologen.


Bewarb mich vergeblich als Archivarin im Krankenhaus.
Was ist schon Zeit, 

in einem Haus Baujahr 1565?


Im Mai lud mich das Arbeitsamt vor:
Endlich bot man mir eine angemessene Stelle an.
Doch der Vorstellungstermin erwies sich als Katastrophe.


Ich stand unter Schock, nie wollte ich dort arbeiten!
Unter allen Bewerberinnen wurde gerade ich ausgewählt.
Als stellvertretende Leitung eines ambulanten Hospizes
(war damals ganz neu),
die Chefin ein lauter, strenger Dragoner.


Es konnte kaum schlimmer kommen.
Meine Zeit entglitt mir bald,
wie es im Pflegebereich nun einmal so ist.


Zwölf Tage Dienst (zehn-zwölf Stunden)
am "freien" Wochenende Telefondienst.
Rund um die Uhr.


Ich schlief irgendwie, 

aß irgendwas,
lebte irgendwann zwischendurch.


Fuhr zu Pflegefachkonferenzen, auf denen ich sprach.
Über das Leid der schwerstkranken Patienten,
und die Überforderung der sie versorgenden.


Sprach auf einem Ärztekongress, 

vor Krankenkassenverantwortlichen.
Was bedeutet Zeit, für eine Schwester,
die nach Minuten pflegen soll?


Für einen Patienten, der im Sterben liegt?
Sie bedeutet Leben, für beide.
Und das Geld, das dafür zur Verfügung steht, auch.


Wenig hat sich geändert in den 25 Jahren seitdem,
fast nichts.


Ich floh in eine halbjährige Fortbildung "Gerontopsychiatrie",
die ich noch selbst bezahlen durfte, teuer.
Und danach aus dem Beruf.


Mein Körper brach einfach zusammen,
er hörte wohl endlich auf die zerstörte Seele.
Ich kam zur Kur, war lange krankgeschrieben, verließ meine Stadt
und leitete in Hamburg einen Großhandelsversand.


Meine Schwesternbekleidung gab ich an die Diakonie,
es war an der Zeit...


Eine kleine Geschichte zum Ende:


In meiner Betreuung hatte ich auch eine zweiundneunzigjährige Patientin.
"Demenz Stufe drei", so stand es im Befund.
Das berechtigte dazu, sie in ihrer Wohnung einzuschließen.


Und zu anderem, was ich nie akzeptieren konnte.
Sie wußte nicht wer ich war, und woher ich plötzlich kam,
aber liebte mich auf ihre Art.


Ich sparte Pflegezeit an, legte meine Pause dazu
und fuhr mit ihr zum Hafen, in ein schönes Cafè.
Wir saßen dort wie Oma und Enkelin,
lachten und schwatzen miteinander.


Es folgten helle Tage. Und dunkle. Wie das so ist.
An guten roch ich schon an der Haustür Essen.
Raste drei Stockwerke hinauf, nutzte den Schlüssel.


Aufgeplatzte heiße Würstchen fanden sich auf dem Tisch.
Und Eier im köchelnden Topf.
Ernst schaute meine Patientin auf die Wanduhr.


"Sie mögen doch weiche Eier, da reichen dreieinhalb Minuten!"
Ein letzter Zeigerblick, kaltes Wasser, fertig.
Wir aßen (mehr oder weniger), tranken kalten Tee.


Danach folgte die Bettprozedur. Mühsam wie immer.
Auf dem Weg zur Wohnungstür ein schneller Blick auf die Küchenuhr, 

zur Orientierung.


Sie stand still, wie schon seit etlichen Jahren, da fiel's mir wieder ein!
Es gab übrigens noch oft gekochte Eier.
Nie zu fest und nie zu weich.
Genau dreieinhalb Minuten lang gekocht eben.

Wie meine so hochgradig demente Patientin das geschafft hat?
Uhren werden wohl überbewertet.


Vielleicht die Zeit auch...