Es ist eine spirituelle Welt, in die ich nichtsahnend geraten bin. Von der ich bis zu diesem Augen-Blick nicht einmal wusste, dass es sie gab. Alles ist neu und oft weiß ich nicht, ob ich über das, was mir nun begegnet, lachen oder weinen soll. Was, ich nehme keine Spirulina? Ja, wie ist denn das nur möglich? Verwende nor- males Kochsalz statt jenem, was gerade absoluter Trend ist und dem wahre Wunderdinge zugeschrieben werden? Trage keine magnetisierten Einlegesohlen in meinen Schuhen? Und meine Armbanduhr mit Me- tallarmband geht schon gar nicht, denn damit schneide ich mir alle Energien ab!

Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ich bin erstaunt, wie ich bisher existieren konnte, ohne Feng Shui, einen Zimmerbrunnen der den Geldzufluss anregt, Klangschalen, Steine, die alles Mögliche auslösen und vermeiden können, Kügelchen, die in der richtigen Mischung den Arzt ersetzen, Kerzen in der richtigen Far- be, welche mir Einblick in meine Zukunft geben, wenn man die passenden Sprüche dazu murmelt. Was ich denke, das spreche ich nicht aus. Höre zu, mache mir ein Bild. Lerne viele, viele grundverschiedene Men- schen kennen. Mit denen ich manchmal etwas anfangen kann. Oft nicht. Aber mir bleibt keine Wahl: Ich brauche wahrhaftig jeden Groschen, den es mit und unter diesen Umständen zu verdienen gibt!

Die Kerzen, welche ich übergangsweise produziere, gefallen mir. Ich begreife endlich auch die Besonderheit aller handgefertigten Artikel aus Bienenwachs. Vor allem, woher ihr hoher Preis kommt. Die Kollegen sind nett. Alle samt und sonders gecastet, nur für die Weihnachtszeit. Wie ich auch. Schnell sind meine Klamot- ten bunt mit Wachs bekleckert, nehme ich auch den Geruch der Werkstatt an. Dufte nach Honig, Vanille, Zimt, Tanne, Orangen. Früh am Morgen fahre ich mit diesen Sachen los, komme spät abends heim. Mich umzuziehen erspare ich mir. Ich arbeite und bin stolz darauf. Oft höre ich nun ganz begeistert: "Sie duften immer so wunderbar, nach Advent und Weihnachten!"

Der Tag vor der Eröffnung meines großen Verkaufstandes verlangt mir ganz anderes ab: Ware auspacken und dekorieren. Wahre Massen davon. Alles Artikel, deren Verkaufspreise ich nun lernen muss. Und die es zu unterscheiden gilt. Nur nicht etwa den Tannenbaum aus Bienenwachs in 7,5 cm Länge verwechseln mit jenem, der 10 cm misst, denn das ist ein ganz anderer Preis! Was ist denn nun der Thai - Buddha und wel- ches der chinesische? Von den Leuten um mich her weiß das auch niemand. Sie sind nun meine Mannschaft und neu im Geschäft, wie ich auch.

Nachts kommt der Chef, gehetzt, abgespannt von den vielen Stunden und Ständen, die er schon hinter sich hat. Einerseits wortkarg, andererseits gereizt. Natürlich ist die Deko nicht so, wie er sie haben wollte, es wird also umgestellt. "Meine Leute" sind längst daheim, sie sollen ausgeschlafen sein am Eröffnungsmorgen. So bekomme ich alles ganz allein ab. Beginne zu ahnen, dass das mir in Aussicht gestellte Geld nicht leicht verdient sein wird. Aber war es das je für mich?

Nach zwei Stunden Schlaf stehe ich freundlich lächelnd und äußerlich ruhig im Zentrum meines rechteckig aufgebauten Verkaufsstandes. In totaler Panik. Heute ist mir klar warum. Eine Asperger Autistin steht in- mitten eines Einkaufszentrums, grell ausgeleuchtet in einem Verkaufsobjekt, um das sich den ganzen Tag über Menschenmassen drängen. Es hat Weihnachtsgeld gegeben, das soll nun unter die Leute gebracht wer- den.

An dieser Stelle wurde die Ware noch nie angeboten, man hat keinerlei Erfahrungen. Es ist einer jener Vor- orte der Metropole, der keinen guten Ruf hat. Viele Diebstähle hat man mir vorhergesagt. Für die ich haften würde. Ich bin sozusagen Franchisenehmer, in voller Verantwortung. Ware bestelle ich, wie ich sie einplane. Und muss sie bezahlen. Von der Differenz aus Einkaufs- und Verkaufspreis bezahle ich mein Personal. Muss mir also gut überlegen, nie zu viel oder zu wenig Leute am Stand zu haben. Beides wäre fatal. Falscher Wa- reneinkauf ebenfalls. Ich muss alles innerhalb des Standes unterbringen können, ein Lager gibt es nicht. Kartons sind streng verboten von Seiten der Centerleitung.

Alles soll permanent aussehen wie ein wahres Einkaufsparadies. Als sei es die helle Freude seine Ware zu präsentieren und zu verkaufen. Verkaufen solle ich zum Event gestalten, erklärt mir der Centermanager, als er meinen Stand offiziell abnimmt. Ich bin gezwungen die Parole auszugeben: "Immer nur lächeln. Wir haben Spaß und hinter unseren Verkaufstresen feiern wir den ganzen Tag über Weihnachts - Party!"

Schnell begreife ich, was es tatsächlich bedeutet zwölf Stunden am Tag ununterbrochen auf dem harten Granitboden zu stehen. Ich habe in jeder Nacht enorme Wadenkrämpfe, am Tag sind meine Beine stock-steif, wie eingefroren. Ich gehe wie eine hölzerne Marionette. Und fühle mich auch wie eine. Das grelle Licht über mir verursacht permanente Kopfschmerzen. Nur wenige Meter entfernt steht eine Bühne. "In der Weihnachtsbäckerei" bohrt sich in meine Gehörwindungen, von morgens bis abends. Der eine Kinderchor hat gerade (endlich!) aufgehört, da baut sich nach kurzer Pause der nächste Kindergarten, eine andere Schulklasse auf. Vormittags und abends röhrt ein Endlosband. Und weckt Mordgelüste.

Mir ist nach allem, nur nicht nach Weihnachten. Wie ich heute weiß, ist das alles unzumutbar für einen As- perger. Gut, dass ich damals davon keine Ahnung hatte. Mein Verstand funktionierte trotz allem kristall- klar, jegliche Gefühle wurden mit Gewalt unterdrückt. Die Rechnung geht auf. Wenn der abendliche Anruf erfolgt: "Wie war der Umsatz?" höre ich am anderen Ende der Leitung stets Jubelschreie. Ich verkaufe dop- pelt so viel, wie man erwartet hatte. Und Diebstähle gibt es kaum. An jedem Abend streiche ich einen Tag an meinem Kalender mit einem dicken Kreuz durch. "Überlebt!" heißt das. Und um nichts sonst geht es.

An Heiligabend stehe ich allein, als ich meine restliche Ware verpacke, die Standinventur erstelle. Längst sind alle Läden um mich her geschlossen. Sie haben ihre Schlacht geschlagen, meine ist noch nicht vorbei. Abschließende Inventur. Alle Gehälter sind ausgezahlt, nun rechne ich jegliche Kosten zusammen. Gegen- einander auf, für den Chef. Die Werbegestalter haben ebenfalls zu tun. Längst sind alle künstlichen Tannen-girlanden  unter den Centerdecken abgeschnitten worden und liegen massenhaft auf dem Boden herum. Dicke rotwangige Weihnachtsmänner türmen sich auf einem Riesenstapel, wie auf einem Scheiterhaufen.

Eine seltsame Atmosphäre ist das! Das Fest hat eigentlich noch gar nicht begonnen und ist hier schon Ver- gangenheit! Wenn nach den Feiertagen die Glastüren aufgehen, schaut jeder auf Silvester und Neujahr. Als sei das ganz selbstverständlich. Monströse Sektgläser- und flaschen werden per Flaschenzug unter die Decken gehievt, riesige Knallbonbons, bunte Raketen aus Pappe. Beglitterte Schilder: "Wir wünschen allen Kunden ein frohes NEUES JAHR!" Irgendwann kommen die armen Jungs, welche auch noch in Aktion sind, laden meine Restware auf, die Deko, Displays, den Kerzenbaum und was sonst noch da ist. Danach kann auch ich endlich gehen. Stopfe mir eine der Girlanden in den Rucksack, auf der schon viele herumgetrampelt haben. Aus ihr werde ich mir einen Baum winden, um ein kales Metallgestell.

 

Im Bahnhof feiern Menschen mit Sekt. Teuer gekleidet. Die Szene erscheint mir unwirklich.

Wenige Meter weiter spricht mich eine ältere Frau bittend an. Mit sehr traurigen Augen.

Ich zerknülle beschämt einen Geldschein, drücke ihn ihr in die Hand. Sie weint.

Für einen Moment umarmen wir uns. "Frohe Weihnachten für dich!" Ich bin beschenkt...

 

 

 

 

Müde und ausgelaugt verschlafe ich Weihnachten. Packe Kartons. Belade den Berlingo. Wieder einmal.

Schleppe täglich Möbel und Sachen drei Stockwerke hinab und im neuen Heim hinauf.

Ich ziehe in die kl. Wohnung in der Nordheide, die ich so verzweifelt zu verkaufen bemüht war. Vergeblich.

An Silvester, 23.59 Uhr endet der letzte Transport, ich renne die Treppen hinauf, den alten Kater im Arm,

reiße das Dachfenster auf. Wir schauen gemeinsam auf die vielen Raketen. Und sind vorerst in Sicherheit...