Einer der so seltenen Tage, an denen ich allein bin. Einer jener so selten gewordenen Ta- ge, an dem ich ohne Schmerzen erwache, die mich seit einiger Zeit unablässig begleiten. Zweieinhalb Monate lang habe ich deshalb z.B. geduldig auf einen Termin beim von mir hochgeschätzten Sportmediziner / Orthopäden gewartet. Der sich mit sämtlichen Unter-suchungen fast eine Stunde Zeit für mich nimmt. Die Enddiagnose ist niederschmet-ternd:  Chronisches, posttraumatisches Schmerzsyndrom, posttraumatische Arthrose, nahezu unverändertes Knochenödem. Das ist Fakt, das wird so bleiben. Damit werde ich leben müssen. Eine neue Stütze wird mir nach Maß angepasst. Leichtmaterial mit zwei Stretchbinden zu tragen, vorrangig nachts. Der Nerv hat einen mächtigen Schaden er- litten, im Knochenbereich sind massiv Strukturen zerstört, die sich nicht regenerieren werden,  ihre beim Unfall auf dem Camino4 in der Sierra Nevada abgegerissenen Frag- mente liegen ordentlich gestapelt unter der Fußmuskulatur, vermutlich eingekapselt. Der Doc ist keiner von der sanften Sorte (was ich schätze) und so erfahre ich klipp und klar was das alles für mich bedeutet.  So ist also die Zukunft...

Etwas in mir habe ich danach aufgegeben. Die Hoffnung? Das Vertrauen? Darauf, dass alles besser wird? Ich kann es nicht sagen. Tage verbringe ich im Bett. Mit einer Grippe. Einem Harnwegsinfekt, der mich verfolgenden Migräne. Müde bin ich. All' dieser Gege- benheiten. Der Dunkel- und Hoffnungslosigkeit. DAS ist kein Leben, jedenfalls keines, wie ICH es mir vorstelle. Weihnachten steht zudem unverrückbar bevor. Ich werde schreiben. Müssen. An jene beiden Menschen, die mir von meiner Familie (noch) irgendwie geblie- ben sind. Das übt Druck auf mich aus. Wie jeder Tag, an dem ich aufwache. Meistens ohne es wirklich von Herzen zu wollen. Mein Leben macht keinen Sinn. Ist eine Wieder- holung von Banalitäten, die den dafür nötigen Aufwand nicht lohnen. Ich bin müde. Todmüde.

Es ist ein Tag wie heute. An dem ich auch allein bin. Ruhig. Frei. Zeitlos. An dem etwas geschieht, von dem ich nicht schreiben möchte. Weil es falsch verstanden werden könnte. Der Abend nahm eine Wendung die unvorhersehbar war. Vielleicht gerade deshalb ein Wunder. Ich durfte einen Blick wagen. In etwas, von dem ich immer vehement bestritten hätte, dass es existiert: Ich habe einen tiefen Frieden empfinden dürfen. Absolute Schmerz- und Empfindungslosigkeit. Es gab keine Kälte mehr. Keine Trauer. Nur ein Lä- cheln. Seitdem sehne ich mich danach. Dieser Vollkommenheit und Sorglosigkeit. Was könnte schöner sein, als sich geborgen zu fühlen, um nichts mehr kämpfen zu müssen?!

Ich bin ein tiefgläubiger Mensch. Ganz ohne Kirche und die übliche Religion. Beides ist nicht meins. Man hat mir im Elternhaus viel angetan, mein Leben in alle Zukunft hinein zerstört. Im (katholischen) Waisenhaus hat man mir den Rest an Vertrauen noch ge- nommen, den ich vielleicht hatte. Trotzdem war ich immer irgendwie beschützt. Behütet, mitten im Leid. Und diesen Glauben hat nichts, wirklich gar nichts mir nehmen können. Ein einziges Mal habe ich gehadert. Mich nicht gefragt: "Gibt es dich?" Sondern "nur" ge- schrien: "Warum nimmst du nicht MICH, sondern mir immer jene Menschen die ich liebe?!" Damals habe ich mir meine schmale Kette mit dem Silberkreuz vom Hals geris- sen und sie in eine Ecke des schrecklichen Zimmers geschleudert, in dem ich sein musste. Da habe ich es einfach nicht mehr verstanden. Dass das Leid scheinbar nie aufhört...

Lange klingelt heute das Telefon. Mein Freund Peter Würl ist es, nach empfunden ewiger Zeit. Als er meine Stimme hört lacht er. Laut, bärig. "Du lebst also!" Viele Menschen (jün- ger als er) seien gegangen, berichtet er mir traurig. Also hat er sich auch um mich Sorgen gemacht. Ich hör(te) ihn immer so gern lachen! Wir tauschen uns kurz aus. Über alles, was wichtig ist. "Eine gute Freundschaft ist besser als eine schlechte Liebe", darüber sind wir uns einig, ohne ins Detail zu gehen. Unsere Leben sind enorm unterschiedlich. Viele Menschen hat er um sich. Ich nur einen. Jeder so, wie er es gewählt hat.  Peter erzählt von Weihnachten. Während ich schweige. Zu sehr schmerzt dieses Thema. In den kom- menden Tagen werde ich meinem Enkel schreiben. Voller Liebe. Wie immer. Ihn fragen, wohin ich das "Weihnachtsgeld" für ihn schicken darf. Wie es ihm geht? Karten werde ich von Hand basteln, für ihn. Und meine Tochter. Das war es dann. Ende. Punkt. Aus.

An Silvester um Mitternacht werden "der Große" und ich wie schon im vorigen Jahr im Hausgiebel stehen und uns die Seehafenstadt im Licht der Raketen und Feuerwerks-körper anschauen. Was wird er sich wünschen? Darauf vermag ich keine Antwort zu ge- ben. Was mich bewegen wird, das ist mir allerdings heute schon deutlich:

 

2017 werde ich aus Kälte und Dunkelheit  in die Sonne gehen, so oder so.

Gott wird für mich entscheiden. Und es wird gut sein, so, wie es sein wird!