Im Buch von Ella Maillart, das ich gerade ausgelesen habe, fand sich ein Satz, der auf die Situation, wie sie sich Anfang Mai 2009 ergeben hatte, ungeheuer zutrifft:

"Der Weg hatte seinen ganzen Zauber verloren!"

Als ich ihn gelesen hatte, stiegen mir Tränen in die Augen. Denn genau das waren die Worte, welche mir in jener Situation gefehlt hatten. Es war mir unmöglich sie zu beschreiben. Nun verstand ich. Nickte. Ja, so war es. Aller Zauber war fort. Hinter mir trampelte jemand von A nach B. Und um es brutal auszudrücken: er zertrampelte alles. Interessierte sich weder für die Menschen auf dem Weg, schon gar nicht ihren Glau- ben und erst recht nicht dafür, was Nordspanien den Menschen bietet, die es von Ost nach West durchlau- fen. Es gibt dazu einen wundervollen Satz von Thoreau:

"Die Frage ist nicht, was man betrachtet, sondern was man sieht!"

Aber, was tut man, wenn gar nichts ankommt? Eine leere Hülse unterwegs ist? Ich wusste mir keinen Rat! Mein Tagebuch ist auch für den 7.Mai 2009 (fast) leer. Der Eintrag lautet nur: Santo Domingo de la Calzada - Villamayor del Rio, 18km. Als Zielpunkt von mir gewählt, um es endlich einmal recht zu machen. Heute ist mir klar, dass dies der Sehnsucht meiner Kindertage entsprang. Zu genügen, Wünschen zu entsprechen, "richtig" zu sein.

Die Herberge von Villamajor del Rio ist eine ungewöhnliche, ein kleines Stück entfernt vom Camino, von den meisten Pilgern wohl schlicht übersehen. Die Werbung wird gar nicht wahrgenommen von den has- tenden Wanderern:

 

 

Ein Bauernhof, mit Tieren, Gemüsefeld, "Herbergseltern" die noch umsorgen und selbst kochen, einem Garten mit Blumen. Als der Jakobsweg in Mode kam, da hatten sie wohl gehofft, auch sie könnten an die- sem Boom mitverdienen, ihre Zukunft sichern. Sie bauten aus, legten sich Internet zu, schafften Stockbet- ten und Zubehör an. Doch der ersehnte Erfolg blieb aus. Es waren die bekannten Städte und in den Wan- derführern herausgestrichenen Orte, die profitierten. Am Tag, als wir eintrafen, bestand die ganze "Aus- beute" aus lediglich drei Pilgern. Uns und einem jungen Mann, der nach einer Monsteretappe nicht mehr zu laufen vermochte...

Wir buchten das Bauernessen und nach dessen Genuss verschwanden meine beiden Mitbewohner in glän- zender Übereinstimmung in den Betten. Um 19.30 Uhr. So gar nicht meine Zeit! Ich ließ mich also im Gar- ten nieder, erfreut über die Gesellschaft der Tiere, die ich schon kannte. Am Nachmittag hatte ich mir anhö- ren müssen: "Aber die Tierhaare verursachen doch Allergien!!" Nein, bei mir nicht. Ich reagiere wohl eher auf Menschen allergisch. Die sich als Kotzbrocken erweisen...

 

 

Meine Stimmung tendierte gen Nullpunkt. Der Hof befand sich mittig zwischen zwei Orten. Also was tun? Ich entschied mich für den Ort auf der linken Seite, schnappte mir meine Kamera und stiefelte los. Logisch, dass da gegen 20 Uhr auch nicht gerade der Bär steppte. Genauer gesagt: Auf dem Friedhof von Brooklyn ist um diese Zeit Karneval, gegenüber einem kleinen nordspanischen Dorf!

 

 

Also retour zum Nachtquartier. Schmerzlich erinnerte ich mich an meinen letzten Aufenthalt dort, 18 Mona- te zuvor, mit Hannes, meinem treuen Weggefährten. In Ermangelung einer Einkaufsmöglichkeit packten wir damals alles zusammen, was unsere Rucksäcke hergaben, bestückten den Gartentisch mit unseren Köst- lichkeiten. Eine Mitpilgerin fragte mich: "Hast du heute Geburtstag? Dein Mann hat alles ganz toll deko- riert!" Mein Mann? Immer wieder wurden wir als Paar angesehen, aber wir waren keines, nur beste Kame- raden:

 

 

Er war und ist der allerbeste und -treueste Weggefährte, den ich auf allen vier Caminos hatte! Ein Mensch, der selbstlos für mich sorgte. Oder besser: Sich um mich sorgte. Mir Last abnahm, auf mich wartete, sich um mich kümmerte. Noch heute schmerzt mich, wie sehr ich ihm wehtat. Ohne Erklärung. Weil ich einen Mann liebte (und für ihn unterwegs war) der diese Gefühle überhaupt nicht verdiente...

Nun hocke ich (1,5 J. später) am gleichen Tisch. Fühle mich einsam, verloren und hilflos. Ist es die Strafe für meinen vorhergehenden Frevel? Ich habe das Gefühl, dass meine ganze Kraft, alle Reserven aufge- braucht sind. Die kleine gestromte Katze schmiegt sich an mich und wird lange gekrault, die bunte folgt  und eine Weile sitze ich auch beim angeketteten Hofhund. Erzähle den Tieren was mich bedrückt.

 

 

 

Meine Stimmung hat ihren absoluten Nullpunkt erreicht. Was tue ich hier? Was will ich überhaupt auf dem Weg? Pure Verzweiflung und Trauer packen mich. Ich möchte davonlaufen. Doch wohin, auf einem Weg, der alle gen Westen führt? Es ist ein Gebet, das mich ergreift, als wäre es die einzige Rettung. Meine Gren- zen sind überschritten, so geht es nicht weiter!! Das Katzentier halte ich traurig im Arm, als ich flüstere: "Herr, wenn Du gerade Zeit hast und mich hören kannst: Bitte lass' irgendetwas geschehen, von dem ich nicht definitiv zu sagen vermag, was es sein solllte! Irgendetwas. Ich ertrage es so nicht länger!"

 

So wird wird denn eines jener Wunder geschehen, an denen der Jakobsweg so reich ist.

Weil es immer geschieht, wie es der Bestimmung nach sein soll...