Eine Geschichte beginnt normalerweise von vorn und nicht mit ihrem Ende. Manchmal aber doch. Wenn eben gerade in diesem Moment etwas ge- schieht, das aus einem Bogen einen geschlosse- nen Kreis werden lässt. In den sich urplötzlich alles wie selbstverständlich einzufügen scheint und einen ganz eigenen Sinn ergibt.

 

Es ist bizarrer weise jener Moment in dem ein Mensch stirbt, nur wenige Meter von mir ent- fernt. Umgeben von hunderten anderen. Die daran überhaupt keinen Anteil zu nehmen scheinen. Ihre Sorge besteht offenbar nur darin, wie lange der Zug noch im Bahnhof wegen des „Zwischenfalls“ festgehalten werden wird.

 

Wir sind zu diesem Zeitpunkt bereits seit mittags 12 Uhr unterwegs und entsprechend kaputt. Lis- sabon hat uns in jeder Hinsicht mit Sonne und Wärme verabschiedet, in Deutschland empfin- den wir eisige Kälte und Dunkelheit, Hamburg ist komplett verschneit, es zieht gruselig durch den weiträumigen Bahnhof und ich versuche mich für die Wartezeit in den Eingangsbereich eines Buchshops zu flüchten, der wenigstens et- was Wärme verströmt.

 

Wie oft sind wir an diesem Mittwoch, dem 9.No- vember schon umgestiegen, haben die Verkehrs-mittel gewechselt? Bahn, Metro, Metro, Metro, Flugzeug. Die S1 hat uns vom Flughafen im Nor- den in die City gebracht, wo es per Zug weiter- gehen soll. Zunächst bis Oldenburg. Danach mit dem Auto. Wenn alles klappt wie geplant. Doch eben das wird ganz verlaufen. Weil das Leben nicht berechenbar ist. Das Schicksal zuschlägt, wann und wo Ort und Zeit dafür gekommen sind.

 

Erst gegen drei Uhr nachts werden wir in der Seehafenstadt die Haustür aufschließen können. Total durchgefroren und übermüdet. Bitterkalt wird der Rest der Nacht sein, denn die uralten Mauern sind ausgekühlt.

 

Vor meinen Augen laufen im Halbschlaf noch immer Filme ab. Einer wiederholt sich ständig: Auf einer Wachstuchmatte schleppt man (mit einer Karodecke mehr schlecht als recht einge-wickelt im Kopfbereich) einen jungen Mann über den Bahnsteig. Er hat bis vor wenigen Minuten noch gelebt. Wollte irgendwohin. Wird von ir- gendjemandem erwartet. Er wird dieses Ziel nicht erreichen. Sich nicht verabschieden kön- nen. Warum dieses grausige Ende in einem fah- renden Zug zwischen Hauptbahnhof und Har- burg? Die Durchsage, es würde dringend ein Arzt, bzw. Sanitäter im Wagen 3 benötigt brachte keine Rettung mehr. Wagen 3. Unserer. Ausge-rechnet. Die Gestalt liegt nun bäuchlings, ein halbnackter Arm baumelt schaukelnd in der Luft, als versuche er nach Halt suchend irgendetwas zu ergreifen.

 

Jemand twittert der tote junge Mann sei 37. Ge- wesen. Vollendete Vergangenheit. Auch ein sich rundes Leben? Kann es das überhaupt sein, wenn man so jung ist? Oder spielt die Länge ei- nes Lebens überhaupt keine Rolle, sondern viel mehr seine Intensität? Zwangsläufig frage ich mich, wie es um mich selbst stände. Wenn ich da nun so erbärmlich liegen würde. Wäre alles ge- sagt, getan, gelebt worden?

 

Es sind Stunden in denen ich eine Antwort finde.

Auf Fragen, die ich mir so nie gestellt habe.

Ich werde nach Portugal zurückkehren.

Für lange Zeit. Vielleicht für immer.

 

 

 

Irgendwann hab' ich Sonne im Gesicht

und bis dann fürchte ich mich nicht...