Die letzte Nacht in meinem kleinen Hostalzimmer war gruselig. Ich fürchtete mich und redete mir zugleich Mut zu. Mit 59 Jahren hat man schon vieles erlebt, daraus gelernt und im besten Falle Mut und Weisheit da- raus bezogen. Ich zwang mich nur daran zu denken, dass alles gut werden würde. Das letzte Frühstück war spanisch karg wie immer und ich entsorgte es mit einem rebellierenden Darm. Hätte ich darauf gehört, was er mir mitteilen wollte, hätte ich dann anders entschieden? Sicher nicht. Ein Gelöbnis war abgelegt und nun galt es dazu zu stehen. Wenn ich gewusst hätte was mir geschehen würde, hätte ich dann anders entschie- den? Natürlich. Ich hätte mich in einen Bus gesetzt. Gen Norden, nach Pamplona (Camino Frances). Oder Westen, gen Sevilla (Via de la Plata)...

Eingeordnet wurde meine Angst aber unter: "Da muss man durch!" Und so packte ich meine ultraleichten Taschen in den braven "Osprey":

 

 

Mit allem was ich in den kommenden zehn Wochen brauchen würde, Kocher, Geschirr, Liegematte, Schlaf- sack, Zelt, Medis, Trekking-Klamotten, Technik, Karten und Wanderführer, Lebensmittel und Getränke, zu- sammen 13 kg ( und das ist absolut wenig für "Draußenschläfer")... Allein ein Zelt kann rasch um 3kg und mehr wiegen, meines lag aber unter 950g:

 

 

Dass man in so einem Mini (man vergleiche mit der Parkbank im Hintergrund) keinen "Urlaub" verbringt ist logisch, aber das will man ja auf einer Trekkingtour auch nicht. Man verbringt die Nacht wettertechnisch geschützt, packt am Morgen zusammen und zieht weiter (wie wir es, lieber Uli, bei unserer Tour Fischland / Darß auch getan haben). So ein Ding hat einen Rang zwischen Biwaksack und Einmannzelt, ist eine Schutz- hülle und erfüllt nur diesen Zweck. Probeweise hatte ich nach dem "Eismärz 2013" das Teil auf den Wallan- lagen der Seehafenstadt aufgebaut. Asperger eben. Was geht genau wie?!

Meine Hostalwirtin knipste noch ein Foto nach der Entrichtung des Obulus für die Übernachtungen. Ich grinste in die Kamera in der Bemühung meine wahren Gefühle zu verbergen:

 

 

Das Bild war verwackelt, da nicht scharf gestellt, aber mal ehrlich: das war doch schnurz unter den gegebe- nen Umständen! Ich schleppte meine Rückenlast bei Superhitze durch Granada, auf dem Weg, den ich zum Teil schon erkundet hatte. Vorbei an den noblen Wohnblocks:

 

 

Denen fast nahtlos Gruselunterkünfte folgten, mit einer Unterführung, die beliebtes Ziel von urinierenden Hunden und ihren (männlichen) Besitzern waren. Es stank (wie auf meiner Probewanderung) höllisch und ich zwang mich mehr oder weniger elegant die stinkenden Pfützen auf einem Rohr tänzelnd einigermaßen trocken zu überwinden:

 

 

Bald darauf erreichte ich Niemandsland, im Wanderführer beschrieben mit: "Offensichtlich soll hier ein Ge- werbegebiet entstehen? Man halte sich möglicht geradeaus und auf die Bergkette zu." Ich "liebe" die gelben Wanderführer. Sie sind so schön: Entweder ist es so, oder ganz anders... Braucht das jemand auf Trekking- tour? Also ICH nicht!! Wo der Weg am Ende hinführen sollte, das war ohnehin klar: Da oben rauf!

 

 

Braucht kein Mensch am 2. Wandertag... Aber es war ja mein erster, Moclin stand noch nicht auf dem Lauf- zettel. Trotzdem reichte es mir bald. Die Hitze war nur schwer erträglich und der Camino völlig anders, als vermutet. Was hatte ich Träumerin denn gedacht? An jeder Ecke würden mir gelbe Pfeile den Weg weisen? Ich sähe andere Pilger, denen ich folgen könnte? Da war nichts. Und niemand. Keine Orientierung möglich. Als ich eine Art Siedlung durchlief war ich fast froh. Hütten sind so etwas wie ein Orientierungspunkt. Doch womit waren / sind sie diese vergleichbar? Lauben sind Luxus dagegen. Lager trifft es irgendwie eher. Ich schluckte angespannt, mehr als einmal. Überall zusammengeklöppelte Zäune aus Müll. Man ahnte, das sich dahinter Menschen verbargen, ohne sie zu sehen. Hunderte Augen schienen mich durch die Zaunlücken an- zustarren, zahllose Hunde kläfften. Ich rannte mehr, als zu laufen...

Am Ende dieses Obdachlosen - Resorts eine fast mannshohe Wiese. Ein Typ erhob sich daraus und starrte mir eine ganze Weile entgegen, ehe er sich wieder im Gestrüpp verbarg. Wie ich mich fühlte? Kann sich wohl jede Frau denken... Toll, wenn dann im Wanderführer steht: "Der Weg führt entlang eines Abwasser- kanals, während man rechts einige Behelfsbrücken sieht. Über die grüne kommt man in den kleinen Ort..." Super! Metallbrücken werden immer wieder mal gestrichen. Und sind dann blau, rot, gelb oder irgendwie. Man könnte auch schreiben: "Die siebente Metallbrücke führt uns nach..." Wäre aber wohl zu viel verlangt vom Autor. Den ich in diesen Stunden gern leibhaftig erwürgt hätte!! Wie würde meine Freundin Fee so treffend sagen: "Die Haftstrafe dafür hätte ich inzwischen längst abgesessen..."

Ein alter Mann wies mir den richtigen Weg. Stolz, dass sein kleiner Ort an einem Camino lag. Es ist gerade jene Generation, die den Weg  ganz genau kennt. "Grüße den Heiligen (St. Jakobus) von mir", bat er mich. Und ich nickte dankbar. Auf dem Plaza Mayor sank ich erschöpft nieder. Und wenn ich mir heute das Foto anschaue sehe ich, wie erschöpft ich war... Ein offensichtlich Obdachloser traf bald darauf ein und sah sich um. Er wählte die Bank neben mir und richtete entschuldigende Worte an mich, bevor er einschlief. Ich ver- stand gut was er ausdrücken wollte...

Die Vernunft sagt einem, dass man weiter muss, ob man möchte oder nicht. Ich schlurfte also an den obli- gatorischen einheimischen Rentnern (70 plus) stark beachtet vorbei, die mir ausführlichst erklärten, wo der Jakobsweg seine Fortführung fand: "Gleich rechts, nach dem Rathaus!" "Muchas gracias!" Was will man auch sonst antworten? Der Kaffee in der kleinen Bar schmeckte einfach wunderbar, bevor ich den Weg wie- der unter die Hufe nahm. 

Das Thermometer zeigte 32° an. Super. Mein Kreislauf streikte, die Beine versagten den Dienst. Aber das hilft nichts auf einem Camino. Du kannst dich hinsetzen und hoffen zu verrecken. Oder weitergehen, was mir als kleineres Übel erschien. Ich lief und lief. Hoffte am Horizont mein Ziel zu sehen. Aber das dauerte. Wie naiv kann ein Pilger sein?! Irgendwann entdeckte ich einen Aufkleber der mich an einer stillgelegten Fabrik vorbeiführte:

 

 

Super, wenn im Wanderführer davon rein gar nichts steht... Ich quälte mich weiter, nicht ohne den Gedan- ken ob ich nicht in irgendeiner der längst verlassenen Etagen ein Nachtquartier hätte beziehen sollen. Aber, wer weiß, wer dort noch Zuflucht gesucht hätte?! Einige Kilometer weiter erblickte ich am Horizont mein Tagesziel. Aber sank ausgelaugt am Straßenrand nieder, löste die Gurte des Rucksacks und lag eine Weile einfach nur am Ende meiner Kräfte da. Kletten verhakten sich in meiner grünen Fleecewanderjacke. Doch mir war alles schnurz, ich wollte daliegen ohne Schmerz auf den Schultern, die Augen schließen. Mir einre- den alles würde gut!

Verging eine Stunde? Waren es zwei? Keine Ahnung. Irgendwann raffte ich mich auf, schulterte den Osprey und quälte mich auf dem Standstreifen in Richtung des zu erwartenden Dorfes. Dort sollte es eine Art Motel geben. Dessen genaue Lage wurde nicht erwähnt. Logisch, das wäre wohl auch zu einfach gewesen... Ich fand es trotzdem. Ein gräßliches Teil, ich dachte spontal an Hitchkock's "Bates Motel". Ich fragte nach einem Zimmer. Der Typ hinter dem Tresen musterte mich seltsam, nannte mir den Preis. Obwohl ich ihm den Schein zuschob ließ er sich Zeit- während ich das Gefühl hatte jeden Moment auf den Fußboden dieses Eta- blissements zu knallen...

Als es dem Herrn endlich genehm war, zeigte er mir betont desinteressiert nach endlos langen Fluren den Raum.  Wer "Shining" kennt, hat eine Vorstellung davon... Ich ließ die Rolläden herab, versank über Stun- den in einem tiefen Erschöpfungsschlaf. Um mich anschließend zu fragen, ob ich diesen Jakobsweg fort- setzen wollte?! Das Gelöbnis war aber stärker als meine Bedenken, also machte ich mich auf gen Ortsmitte. Seltsame Menschen erwarteten mich. Am hellerlichten Tag betrunken, auf der einzigen Zugangsstraße tor- kelnd. Kinder starrten mich an, nur notdürftig bekleidet. Mit erhobenem Kopf durchschritt ich wie Queen Mum dieses Szenario, entsetzt und zugleich im Gedanken, dass Flucht unmöglich war...

Im Ort fand sich kein einziger geöffneter Laden, erst an der Bundesstraße. Ich kaufte billige Getränke und Tütensuppe, kochte am Abend auf meinem winzigen Kocher. Das Wasser für die Badewanne war heiß, ich schaute mir das spanische Fernsehprogramm an: Spanien sucht den Superstar. Alles war wie 2009 und zu- gleich völlig anders! Ich klemmte den einzigen Stuhl unter die Türklinke, wälzte mich einige Stunden lang vergeblich hin und her, packte wie am Vortag und brach auf. Wieder mit schwarzem Durchfall und ohne auf alle Warnungen meiner Seele und meines Körpers zu hören! Wie kann man nur so dumm sein?!

Müde und ausgelaugt quälte ich mich nun die Berge hinauf. Voller Angst. Zu Peter hatte ich gesagt: "Was wäre wenn?" War das vorausschauend? Wenn man sich das Höhenprofil anschaut, braucht es keine Worte mehr, auch der (Wander-) Laie kann sich vorstellen was das bedeutet:

 

 

Ich stieg also auf. Höher und höher. Obwohl schon am Morgen absolut müde und total kaputt. Was hätte ich sonst tun können? Später fragt man sich das. Ohne Antworten zu finden... Olivenplantagen und Berge würden mich über viele Stunden erwarten, das hatte ich mir angelesen. Ohne Handyempfang und einer Chance Menschen zu begegnen. Man hofft einfach. Dass alles gut gehen möge. Mehr kann man nicht tun. Der Weg war kein "Weg", es waren nur Felsen da:

 

 

Ich dachte: "Am Abend wird alles gut sein, da bin ich in Sicherheit!" Das muss man sich sagen! Um daran zu glauben. Aber es kam anders. Ich stürzte. Einfach so. Mitten im Niemandsland und unvermittelt. Habe ich die Konsequenzen rasch begriffen? Nein! Man rappelt sich auf, setzt sich hin, löst die Rucksackgurte. Schaut zwangsläufig auf die Füße. Einer ist ungewohnt abgewinkelt. Ohne Gefühl. Und man begreift: Frak- tur. Nichts geht mehr! Instinktiv greift man nach dem Smartphone, welches wie vorhergesagt keinen Emp- fang hat. 

Was man als EXTREMSTES befürchtet hatte, das ist nun eingetreten. Die Mittagshitze brennt unerbittlich herab. Wird man das kleine Zelt aufbauen können? Unmöglich, mit dem gebrochenen Bein. In die Hülle könnte man vorwärts kriechen. Vielleicht. Und wie wieder hinaus? Es ist ein offener Bruch. Man kann zu- sehen wie der Socken sich blutrot färbt. Weil sich mitten auf dem Fuß der Knöchel befindet, der dort abso- lut nicht hingehört. Man nimmt es wahr wie im (falschen) Film. Mittags wird die Gluthitze ausbrechen. Es gilt also Wasser zu sparen. Wo gäbe es Schatten, könnte man da irgendwie hinkriechen mit dem zerschmet- terten Sprunggelenk?

 

 

Man begreift am Ende: Dass es keine Rettung gibt, dass man verloren ist in diesem Niemandsland. Man lehnt sich auf, schreit und klagt. Um irgendwann ganz still zu werden. Woran wird man am Ende sterben? Blutverlust? Infektion? Wassermangel? Ist das noch wichtig? Erst einmal den Tag überstehen, die Nacht! Im Morgengrauen rückwärts kriechen, die Berge hinunter, das verletzte Bein hinter sich herziehend.  Das ist die einzige Chance zivilisierte Gegenden zu erreichen. Dies soll also vielleicht mein Ende sein?! Hatte ich nicht gewettert gegen einen Tod im heimischen Bett? Nun, so gesehen wäre alles wie gewünscht...

Woran denke ich? An meine Kids! Natürlich. Woran auch sonst?! Wir haben uns bei meinem Aufbruch nicht mehr sehen können. Ich vermochte ihnen nichts mehr persönlich zu sagen. Wann wird man mich finden? Ich bin froh, dass ich das Tagebuch bei mir trage. Bis zum allerletzten Moment werde ich eintragen was abgeht, ihnen sagen, wie sehr ich sie liebe! Mist, dass im Haus so vieles nicht abgeschlossen ist, ich eine Baustelle hinterlasse...

Mit der Zeit werde ich ruhiger. Ich liege flach auf dem Rücken und schaue zum Himmel hinauf. Denke an viele meiner Patienten, die ich so ruhig erlebt habe, da sie ihr Haus bestellt hatten. Dein Wille geschehe. Es ist okay. Für mich jedenfalls. Es ist wie es ist und wohl sein sollte. Da ist ganz viel Ruhe in mir. Nun brau- che ich mich um nichts mehr zu sorgen. Alles ist fern und meinem Zugrif entzogen. Meine einzige Bitte ist, dass es nicht allzu lange dauern möge. Wie es ist zu verdursten, das habe ich bei einem jungen Patienten mitansehen müssen und wünsche es mir nicht für mich selbst. So lege ich alles in Gottes Hände...

 

Wieviel Zeit bleibt mir noch bis zur Mittagshitze? Ich schaue auf die ungeliebte rote Uhr.

Mein Armband mit den Glöckchen. Ich schüttele es wie wild. Was habe ich denn zu verlieren?

 

 

Wenn ich traurig bin und - bei meiner Seele - so schwach,
wenn Sorgen kommen und mein Herz so schwer ist,
dann bin ich ganz ruhig und warte in der Stille,
bis du kommst und eine Weile bei mir sitzt...

Du ermutigst mich,
so dass ich auf den Bergen stehen kann
du ermutigst mich,
so dass ich über die stürmischen Meere gehen kann
ich bin stark, wenn ich an deiner Schulter ruhe
du ermutigst mich zu mehr, als ich je sein kann...