Ja, ich vermag mich zu erinnern. An Kälte, Dunkelheit, Einsamkeit und Schmerz. Es ist mir dann, als sähe ich einen uralten Schwarzweißfilm. Lange habe ich geleugnet, dass es reale Erinnerun- gen sind. Ein so kleines Kind sie irgendwo in einer Schublade seines Hirns so detailliert abzu- speichern vermag. Aber dann sandte mir das Schicksal einen Menschen auf den Weg, der diese Zweifel wie ein Tornado davongeblasen hat: Denn auch er ist dazu fähig. Schreibt die Geschich- ten seiner Kindheit auf und liest sie mir am Telefon vor. Wir lachen gemeinsam. Oder sind ernst. Vielleicht, da wir in diesen Momenten begreifen, dass uns etwas Besonderes verbindet. Etwas, dass  nicht vielen Menschen gegeben ist. Kann sein, dass ich ihm begegnen sollte, um ihn das erkennen zu lassen. Und er mir, um mich damit nicht mehr so allein zu fühlen...

Die Tage vergehen. Sinnlos, wie es mir erscheint. Ich bin krank, liege und schlafe viel, (er)schaf- fe nichts. Wen interessiert das auch? Niemanden. Ich bin eine Insel. In der Unendlichkeit der Welt. Kaum jemand weiß, dass sie überhaupt existiert. Noch weniger Menschen suchen nach ihr. Oder vermögen sie gar zu finden. Es würde auch nicht lohnen. Denn sie ist wild, urwüchsig, nicht gemacht um ein menschenfreundliches Leben zu ermöglichen. Sie ist einfach nur da. Wie ein Sandkorn am Strand. Unter unzähligen anderen...

Mein Nachbar hat ein Päckchen für mich angenommen. Ausgerechnet. So selten, wie ich etwas bekomme. Wenigstens ist es jener Mensch der mich versteht. Da er ist, wie ich bin. Wir reden eine Weile. Er zeigt mir die Rosen an seiner Hausfront. Die einzigen in seiner Straße. Obwohl je- ne doch vom Namen her viele Blumen aufweisen müsste. Doch so ist es nicht. ER achtet darauf. Mit seiner ganz speziellen Sensibilität.

Ich mag ihn gern und er ist mir ein wahrer Freund. Seelenverbunden. Ginge ich fort - er würde mir sehr fehlen... Als wir uns fast schon verabschiedet haben, da erzähle ich ihm, wie mein Sohn am Morgen nach meinem Geburtstag an mir gehandelt hat. Und was sich daraus wenige Tage später ergab. Ob er es versteht? Ernst breitet sich auf seiner Miene aus. Dann sagt er: "Solltest du mit ihm noch einmal Kontakt haben, dann richte ihm aus, er solle endlich erwachsen wer- den!" Ich nicke. Aber wird es dieses Gespräch jemals geben? Ich verspüre keinerlei Sehnsucht danach. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich verabschiedet. Dafür reichen vier Wochen nicht aus. Es wird noch sehr, sehr viel länger dauern. Und wie eine tiefe Wunde immer wieder aufbrechen, auf der sich nur oberflächlich Schorf gebildet hat.

Warum es so kam, das ist eine uralte Geschichte. Die vor sechs Jahrzehnten begann. Als ein Kind zur Welt kam, das nicht hätte leben sollen. "Engelmacherinnen" überstand. Rippenbrüche. Eine gefüllte Badewanne. Eisige Nächte im Freien. Scheinbar war es ein Opfer. Auf dem viele Menschen herumtrampelten, die seine (verborgene) Schwäche erkannten. Während andere nur die Stärke und Durchsetzungsfähigkeit einblenden wollten. Wo liegt die Wahrheit? In der Mitte? Mal ganz links, dann wiederum ganz rechts? Alles trifft zu. Und doch nichts davon. Weil wir im- mer alles ändern können. Wenn wir die Kraft dazu haben. 

Im (sehr!) kleinen Karton mit den Fotos aus der Kinderzeit finde ich zwei Bilder:

Auf dem ersten bin ich 2 1/2 Jahre alt, sicher hat man mir gesagt: "Dreh mal an dem Knopf!" Was ich auch tue. So ernst, wie ich es damals war. Das andere Bild ist zwei Jahre später ent- standen. Von den Eltern habe ich zu Weihnachten Rollschuhe aus Metall bekommen, von meiner Schwester einen Schulranzen aus braunem Leder. Da bin ich fünf Jahre alt und erhoffe mir von den Gaben, dass ich durch die Einschulung im April endlich die Wohnung verlassen darf. Hinaus in die Welt. Von der ich fast nichts weiß. "Jetzt sieh' auf den Baum und freu' dich über deine Geschenke!" befiehlt meine Mutter. Und ich tue es...

Bald darauf erkranke ich an Keuchhusten. Es gibt 1958 noch keine wirklich guten Medikamente. Am Tage verbringe ich viel Zeit in einer verriegelten Druckkammer. Die Nächte auf dem Balkon. Mit meinem Teddybären Peter. Ich werde mein Leben lang husten. Mich aus- oder eingesperrt fühlen. So sehr ich das auch loswerden möchte - es funktioniert nicht. Der letzte Camino hat mir gerade das extrem gezeigt. Wir können erwachsen werden. Aber das bedeutet, die Schatten der Vergangenheit ständig neu bekämpfen und besiegen zu müssen. Vor allem dann, wenn sie sich in der Gegenwart wiederholen.

 

Heute bin ich kein Opfer mehr. Aber der Preis dafür ist hoch.

Er hat mich auf ganz verschiedene Art und Weise meine beiden Söhne gekostet...

Aber meine Tochter ist mir geblieben. Gott sei Dank!