Kapitel 6


Vom Käfig der einen Vogel suchte




Der Nachmittag in der Werkstatt verging viel zu rasch, was ich gern noch fertiggestellt hätte ist nicht erledigt. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Wenn ich über etwas reichlich verfüge, dann ist es Zeit. Andererseits könnte sich das rasch ändern, da nun die Möglichkeit besteht einen coolen Job zu ergattern! Ich dusche nur kurz und lasse die Haare an der Luft trocknen. Bin dabei immer mit mindestens einem Ohr an der zum Treppenflur offenen Ba-dezimmertür, um das Telefon gut hören zu können, falls...

Es geschieht aber nichts. Seltsam, dass es immer wieder solche Situationen sind, in denen man ungeduldig wird. Zuerst konnte man sich nicht entschei-den, aber wenn dann doch, kann es plötzlich nicht schnell genug gehen. Viel-leicht soll auch einfach nur so oder so eine Entscheidung her und zwar von mir ausgehend. Weder möchte man sich auf etwas freuen, dass hernach gar nicht eintritt, noch von der anderen Seite abserviert werden.

Oder fürchte ich mich in Wahrheit? Davor, die Stadt, mein Haus und das ge-wohnte Leben zu verlassen. Wo ich doch früher stets für Abenteuer zu haben war! Allerdings waren die letzten Jahre ohne nennenswerte Ereignisse ver-gangen. Einfach so. Ohne Tiefen, aber auch ohne Höhen. Warum eigentlich? Worauf hatte ich gewartet? Nun hält mir das Schicksal gewissermaßen die Hand hin und ich müsste sie nur ergreifen...

Mein Notizbuch liegt samt Stift bereit, ein Glas Rotwein ist vorsorglich einge-gossen, eine Kerze entzündet. Als ich die schweren Leinenvorhänge mit den eingewebten Schiffen am Küchenfenster zuziehen will, fällt mein Blick in den Hof mit dem alten Kopfsteinpflaster und der schönen historischen Laterne. Eine Katze sitzt im Lichtkegel, putzt sich erst intensiv und schaut dann zu mir herauf.

In den Häusern ringsum laufen offenbar die Fernseher, durch die Gardinen vermag man es gut zu erkennen. Würde das nicht auch mein Dasein sein, in der verbleibenden Lebenszeit? Wunder geschehen nicht, wenn man sich erst einmal vom Leben entfernt hat...

Als das Telefon klingelt gehe ich trotzdem langsam die vielen Holzstufen hinauf. Vielleicht hört es ja auf zu läuten, damit wäre mir die Entscheidung abgenommen. Aber das ist nicht der Fall. Ich atme tief durch und nehme den Hörer ab.

„Hallo, hier ist Ben. Du hast sicher schon gewartet, tut mir leid, aber hier war heute die Hölle los! Viele zukünftige Mitarbeiter sind angereist, das war ziemlich aufregend, musste aber trotzdem geordnet ablaufen! Manche soll-ten vom Flughafen, andere vom Bahnhof abgeholt werden und das zu unter-schiedlichen Zeiten. Es war schon der pure Stress überhaupt die Termine zu koordinieren und die Fahrdienste zu organisieren. Von dem vielen Papier-kram für die Aufnahmen noch ganz abgesehen. Bin ich froh, dass es ab mor-gen ruhiger wird, wir sind jetzt quasi komplett!“

Gut, dass er mein Gesicht nicht sehen kann! Ich bin bitter enttäuscht! Nun habe ich mich für einen mutigen Schritt entschlossen und jetzt kommt die Absage. Ich bringe kein Wort hervor.

„Bist du noch da, ich kann dich gar nicht hören?“ Wie auch, ich bin so stumm wie ein Fisch in der Tiefsee. Die Stimme aus der Leitung holt mich allerdings in die Realität zurück und ich brummele irgendetwas. „Hallo“, ruft Ben, „die Verbindung ist leider gerade schlecht! Es ist so, dass wir dich auf die Abhol-Liste der letzten drei neuen Mitarbeiter gesetzt haben. Die Anreise ist aus-nahmsweise für das Wochenende vorgesehen, du brauchst diese Zeit sicher um noch deine Angelegenheiten zu regeln, das ist nachvollziehbar. Hallo, hörst du mich?“

So, jetzt sitze ich da und muss mich von null auf gleich entscheiden. Hilfe-suchend greife ich nach meinem Heft mit den Fragen, aber plötzlich kommen sie mir geradezu naiv und albern vor. Also stottere ich herum und bringe am Ende nur heraus, dass ich mich entschieden hätte nicht mitzumachen, alles wäre mir viel zu unsicher, was auch nicht ganz geschwindelt ist.

Offenbar hat Ben damit überhaupt nicht gerechnet, ich kann deutlich hören wie er sehr tief Luft holt. Sein Tonfall hat sich abrupt verändert: „Oh, ich muss zugeben, dass ich jetzt schon ziemlich enttäuscht bin! Kann ich dich vielleicht doch noch irgendwie überzeugen? 

Also sollten irgendwelche Fragen offen geblieben sein, dann stelle sie gern, dafür sitze ich hier! Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass wir beide gut mit-einander harmonieren würden, beruflich gesehen natürlich. Gerade auf dich habe ich mich gefreut. Weißt du, die Standardbewerber hat man immer, aber die suchen wir eben gerade nicht. Du bist besonders und es wär' echt schade wenn du nicht dabei wärst!“

Das wiederum habe ich nicht erwartet. Vielleicht ist Ben ein überzeugendes Gegenüber, vielleicht sollte aber auch alles genau so sein, wie es sich letzt-lich entwickelt. Ich sage so etwas wie: „Na, dann bringe mal gute Argumen-te vor, ich bin gespannt!“ Er klingt jetzt verunsicherter als zuvor. Man merkt deutlich, dass alles was er sagt echt ist und keine Verkaufsmasche.

„Also, du möchtest sicher in erster Linie wissen, wie unsere Konditionen sind und was dich bei uns ansonsten erwartet. Vorab muss ich dich aber unbe-dingt darüber informieren, dass du über alles, was mit der Firma zu tun hat, absolutes Stillschweigen zu bewahren hast. Ansonsten wären die Folgen für beide Seiten unabsehbar. Einen entsprechenden Vertrag gilt es direkt nach der Anreise zu unterzeichnen. Natürlich trifft das umgekehrt auch auf uns zu. So geben wir z.B. keinerlei Auskünfte an deutsche Behörden, wie Finanzäm-ter etc. Wir sind eine ausländische Firma und alle Rechte liegen dort. Bist du damit einverstanden?"

Wer wäre das nicht? Eine Art von Steuerparadies also. Wie sie das machten war ihre Sache, brachte den Mitarbeitern aber offensichtlich auch Vorteile. Ich hake nach, wie es z.B. mit der Krankenversicherung wäre, denn ohne wäre es mir unheimlich.

"Über solche Nebensächlichkeiten brauchst du dir wirklich keine Gedanken zu machen! Du wirst sehen, dass unsere Anlage fast eine Stadt abbildet. Wir verfügen natürlich über eine eigene Klinik mit vielen Fachärzten, z.B. hervor-ragenden Chirurgen. Unsere Apotheke liefert alles, was weltweit zu bekom-men ist, auch extrem teure Medikamente aus den USA. Eine bessere Versor-gung erhälst du nirgendwo in Europa!"

Das ist wirklich beeindruckend! Aber ich hätte mich eher wundern sollen, wa-rum man Mitarbeiter vor Ort operieren wollte... Stattdessen erkundigte ich mich nach der Versorgung mit Lebensmitteln, bzw. ob ich eine Küche hätte und wie es überhaupt mit der Unterbringung aussähe.

Ben antwortete dass es eine große Cafeteria gäbe, die allen Ansprüchen ge-recht werden würde, im Angebot seien Normal- und Diätkost, vergetarische und vegane Gerichte in größerer Auswahl und das 24/7, also Tag und Nacht, die ganze Woche über verfügbar mit einem wechselndem Speiseangebot. Für alle Mitarbeiter selbstverständlich völlig kostenlos.

Die Unterbringung sei zugegebenermaßen dagegen kein Glanzpunkt. Eher im Stil einer Schiffskabine mit notwendigem versehen, aber eigenem Bad. Man sei ohnehin tagsüber beschäftigt, da viele Angebote verlocken würden. Z.B. ständen mehrere Schwimmbäder zur Verfügung, auch ein spezielles Tauch-becken, bestens ausgestattete Fitnesscenter, Solarien und Massageräume, falls sich Muskelprobleme auftäten.

Friseure wären ebenfalls engagiert. Am Kino würde noch gebaut, es sei aber fast fertig, ebenso wie das Auditorium. Mehrere unterirdische Etagen stän-den als Joggingstrecken zur Verfügung, völlig wetterunabhängig. Ein Mehr-zwecksaal könne auch für eigene Vorträge genutzt werden.

Büros mit modernster Technik wären frei zu nutzen, ebenso hochwertige Kameras zur individuellen Verwendung.

Eigentlich wollte ich zwischendurch Fragen stellen, kam aber gar nicht dazu, da ich permanent mitschrieb. Dergestalt viele Informationen konnte sich nie-mand im Kopf merken!

Die Wäscherei und die Firmenbekleidung vielleicht gerade noch und die all-gemeinen Schulungsräume auch. Aber Maßschneiderei, Kostümfundus, Hut- und Schuhmacher verwirren mich schon. Wofür braucht man all' das in ei-nem so modernen Unternehmen, wird dort Theater gespielt?

Nein, ich frage nicht nach, da ich buchstäblich erschlagen bin! Aber das Wichtigste hat Ben bisher nicht erwähnt: die "Aufwandsentschädigung", wie er das genannt hatte. Ich weise ihn dezent darauf hin, höre ihn danach in Papieren blättern und murmeln: "Moment, gleich hab' ich es! Du kämst in Gruppe XX, hast..., bist..., ich addiere mal kurz.." 

Als er die umwerfende Summe nennt ist meine Entscheidung endgültig ge-fallen. Ich nehme allen Mut zusammen und sage: "Okay, ich mache es! Wie geht es nun weiter?"

Ben's Erleichterung ist förmlich durch die Leitung zu spüren. Vielleicht be-kommt er eine Art Kopfgeldprämie, oder so etwas, denke ich. Und bin schon ziemlich nah dran. Aber es sei ihm gegönnt, schließlich habe ich es ihm bis-her nicht einfach gemacht!

"Also Sonntag. Möchtest du fliegen?" Nein, ich bevorzuge die Bahn. "Wird geregelt, was du brauchst übermittle ich dir dann online. Du wirst am Bahn-hof in München abgeholt und verbringst ca. zwei Tage hier mit uns, dann fahren wir zusammen zum KILIAN-Center, es liegt ein wenig außerhalb, da wir ein größeres Grundstück benötigten. Du wirst eine tolle Zeit haben!"


Der Käfig, der einen Vogel suchte, hatte ihn gefunden. (Frei nach Kafka...)