Nichts geschieht „einfach nur so“, davon bin ich schon seit langem überzeugt. „Zufällig“ interpre- tiere ich als „zugefallen“. Nicht immer kann ich damit etwas anfangen. Vielleicht will ich es auch nicht, schiebe Erkenntnisse von mir weg. Weil es einfacher ist? Weil mich intensive Gedanken zu nicht enden wollenden Grübeleien veranlassen könnten? Oder weil ich schlicht Angst vor ihnen habe?

 

Wie bequem ist es doch, nichts infrage zu stellen. In der gewohnten Komfortzone der üblichen Nach- denkschleifen zu verharren. Morgen hat man mehr Zeit dafür. Ach nein, da liegt ja schon etwas an! Also doch besser am Donnerstag. Wenn nicht Besuch kommt. Sonntag ist also besser. Eigentlich die Woche danach. Da hat man noch nichts vor. Nur Kleinkram. Da bliebe Zeit. Vermutlich. Vielleicht.

 

Warum verschiebt der Mensch so gern? Um Ent- scheidungen zu entgehen? Oder unangenehmen Wahrheiten? Begegnungen mit sich selbst? Geleug- neten Realitäten? Vielleicht rettet uns diese Form der Verleugnung aber auch einfach. Weil wir wissen, dass wir mit einer radikalen Veränderung nur Pest gegen Cholera tauschen würden. Not gegen Elend. Aber auch das ist eine Erkenntnis!

 

Existiert kein dritter Weg, oder erkennen wir ihn nur nicht? Brauchen wir tatsächlich mehr Zeit? Oder mehr Mut? Einen hilfreichen Freund? Mehr Kraft? Finanzielle Sicherheit? Zeit für uns ganz allein? Oder mit Menschen die uns viel bedeuten? Ist es besser nach vorn zu schauen? Oder die Vergan-genheit zu bearbeiten? Würde es Sinn machen einfach loszugehen, nicht nach dem Ziel zu fragen, oder dem genauen Weg? Sich einzulassen, auf das, was uns begegnen wird? Darauf zu vertrauen, dass alles so sein wird, wie es gut und richtig ist?

 

Zufällig“ begegnen mir Worte von Rilke. Die ich mehrfach lese, um sie wirklich zu verstehen. Die ich – auf meine Art – zu interpretieren suche. Bin ich selbst mein ärgster Hemmschuh? Was sind meine größten Ängste? Woher kommen sie? Vermag ich sie zu beherrschen? Haben sie mich besiegt in den letz- ten beiden Jahren? Oder sind sie mir nur besonders deutlich bewusst geworden? WAS ist denn meine al- lergrößte Angst?? Habe ich mir selbst Drachen er- schaffen? Hätte ich den Mut den Kampf mit ihnen aufzunehmen? Wirklich auf Leben und Tod, oder nur so halbherzig mit kleinen Nadelstichen statt mit ge- zogenem Schwert und fest gepackter Lanze? Was hält mich ab? Und was könnte ich verlieren? Oder gewinnen? Gibt es noch einen Schatz in mir? Für den sich alles lohnen würde? Jeder Kampf, jede Verletzung, jede Mutlosigkeit, jedes neue aufraffen?

 

Das kann nur jeder für sich selbst beantworten. Wenn er sich die Zeit nimmt darüber nachzudenken. Vielleicht haben die Drachen längst gesiegt. Oder sind zu einer Art vertrauter und akzeptierter Haus- tiere geworden. Es kann auch sein, dass man sich fürchtet. Vor der Wahrheit. Der Realität hinter dem Theatervorhang. Ohne buntem Kostüm und über- deckender Schminke. Ganz ohne Maskerade und Mummenschanz. Wer bin ich dann? Was würde ich wollen in meinen geheimsten Wünschen? Oder habe ich sie längst vergessen? Wenn plötzlich ALLES möglich wäre, was geschähe dann? Ich hoffe, für mich die Wahrheit herauszufinden. Meinen Schatz zu bergen. Und zu nutzen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät...

 

 

Unsere größten Ängste sind jene Drachen,

die unsere größten Schätze bewachen.

(Rainer Maria Rilke)