Den letzten Aufenthalt im Haus empfand ich als traumatisch.

Öffnete Kartons, sah gleich oben etwas liegen,

das ich nicht sehen wollte, und klappte sie zu.

 

Zog Schubladen an Kommoden auf, erblickte Fotos. Briefe.

Schloss sie überhastet, als könne daraus etwas entfliehen.

An Schatten. Gefühlen. Schmerz. Erinnerung.

 

Die Türen zur Vergangenheit lassen sich nicht ohne zu knarren öffnen.

Weiß ich ja längst. Ist eine uralte Kenntnis.

Wird in neuer Situation aber doch wieder ganz anders empfunden.

 

Einen Tag verlor ich dadurch. Wie erstarrt, gelähmt. War krank.

Einfach so. So einfach. Und so schwer, sich davon zu befreien.

Von den Mühlsteinen um den Hals, den Stricken an den Gliedern.

 

Schwülwarm war es im Haus. Lärm drang durch alle Öffnungen herein.

Neue Nachbarn diskutierten lautstark. Mehr als zwei Stunden lang.

Auf dem Bürgersteig direkt unter meinem Fenster. Dann ertrug ich's nicht mehr.

 

Das Wenige, was ich gepackt hatte, schleppte ich zum Wagen.

Mitten durch die Meute. Was sie sprengte.

Endlich Ruhe. Gegen Mitternacht. Falls nicht, wäre ich geflohen.

 

Meine Kraft und jegliche Geduld waren erschöpft. Grenzwertig.

Nur der Verstand hielt mich aufrecht. Besser: die Vernunft.

Spritgeld ausgegeben, Lebensmittel gekauft. Umsonst? Nein!!!

 

Am Morgen Geschrei und Gebrüll auf der Straße. Mutter und Kleinkind.

Mutter am Haus, konzentriert auf's Smartphone. Kind mit winzigem Laufrad.

Mitten auf der Straße, entgegen der Fahrtrichtung hingefallen.

 

Es gibt Bilder (und Situationen), die ich nur sehr schwer ertragen kann.

Ein Kind unter zwei Jahren auf einer gut befahrenen Straße liegend-

mit einer desinteressierten Mutter - das gehört einwandfrei zu den Albträumen!

 

Offenbar hat sich vieles in meiner Straße massiv verändert. Negativ.

Diese Entwicklung konnte ich nicht verfolgen. Mich überrascht das Ergebnis.

Und, wie ich darauf reagiere. Empört. Traurig. Enttäuscht. Bedrückt.

 

Mein Viertel war schon einst Zuflucht für Religionsflüchtlinge.

Die Emder gaben ihnen Land vor den Stadttoren. Mit Berechnung.

Niederländer waren Fremde. Anders. Vielleicht gingen sie wieder?

 

Neue Fremde sind nun gekommen. Vom Balkan. Mit anderer Mentalität.

Man wird sich gewöhnen (müssen). An Partymusik? Einen Müllberg?

Zigarettenkippentürme? Streitereien, brüllende Kinder mitternachts?

 

Es wird mir definitiv den Abschied vom Haus leichter machen.

Die lange Zeit bis dahin mit Umzug und Renovierung hingegen nicht.

Auf der Rückfahrt ins Exil war ich erleichtert. Totenstille erwartete mich.

 

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Wir machen uns ein Bild von einem Menschen, beurteilen ihn

nach seinem Tun, nach seinen Äußerungen, seinen Gesten.

Doch wir wissen nicht wirklich, was er denkt und fühlt.

 

Einem Tagebuch aber vertraut man das an,

was man nur sich selbst anvertraut.

 

Aus: „Die Handschuhmacherin“,

Manuela Martini