Wenn wir alte Bilder anschauen, Lieder hören, unseren Gedanken Raum geben, um in die Vergangenheit zurückzukehren, dann erinnern wir uns. Daran, was wir damals gefühlt haben, gedacht, gesagt. Es ist, als erstände alles auf, was war. Jedenfalls und ganz besonders für Asperger, von denen viele über ein fotografisches Gedächtnis verfügen. Wie stand in einem AS - Fo- rum zu lesen: "Das Leben ganz umsonst in Full HD!" Ich hab' gelächelt, weil ich sofort wusste, wie es gemeint war...

So bin ich denn nun in meiner Vorstellung auf beiden Jakobswegen parallel unterwegs in diesem Moment, dem zweiten und dem dritten. Die man nicht miteinander vergleichen kann. Das ließ sich aus der bisherigen Schilderung des "verunglückten" Caminostarts mit meiner Freundin bereits erahnen. Wie so anders war es doch 1 1/2 Jahre zuvor gewesen! Nur wenige Wo- chen nach der Rückkehr meines allerersten Marsches gen Santiago, fand ich mich erneut auf dem vertrauten Weg wieder.

Hatte mich doch die Liebe wie ein Blitzschlag zwei Etappen vor dem über fünf Wochen so heiß ersehnten Ziel, der Kathedrale, völlig unerwartet getroffen. Und fortan meinen Alltag durcheinander gewirbelt. Vieles war geschehen. Ein Heiratsantrag, die Entscheidung in Berlin eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, seine "Flucht", die von mir daraufhin ausgesprochene Tren- nung. Ein Motorradunfall ohne Bremsspuren. Mein Gelöbnis. Überleben. Ein unerwarteter Sponsor unter meinen Weblog - Lesern. Busse und Bahnen brachten mich zurück nach Südfrankreich, zum Startpunkt St.Jean, am Fuße der Pyrenäen.  

Es war Herbst geworden, am 12.9. begann ich den schweren 27 km -Marsch über die Berge, mit einer Gruppe Jugendlicher aus verschiedenen Ländern unfreiwillig im Schlepptau. Die Sprache Englisch einte uns, Südafrika, Australien, Neuseeland, USA, die Niederlande und Irland - es spielte keine Rolle, wer woher kam... Ich war sozusagen die Mama, war gerade erst gegangen, was lag näher, als sich mir anzuschließen?! Und wie das mit Müttern so ist, ich hatte reichlich damit zu tun den Sack Flöhe heil von A nach B zu bringen. Wo dann Blasen versorgt wurden, Muskelsalben aufgetragen (streicheln hilft immer!), Verbände an- gelegt, Mut zugesprochen, Schlappen organisiert statt Wanderstiefeln, gekocht, erklärt, getröstet, ermutigt, usw.

Irgendwann, irgendwo war Hannes da. Ernst. Stumm. Aber uns ständig mit den Augen verfolgend. Ob er Franzose war und nichts verstand? Zudem lag er immer in oberen Betten, wo keiner gern hin will, wegen der ewigen Kletterei und weil man alle seine Sachen unten auf dem Boden stehen hat. Ich fragte ihn, ob er Englisch spräche. Was er kopfschüttelnd verneinte. "Aber Deutsch!" kam dann. So lernten wir uns kennen. Ein wenig wurde er mein Schatten und mit der Zeit schaute ich in den Herbergen, ob er auch da wäre. Ich kochte für alle und lud ihn ein, sich zu uns zu setzen. Was er auch tat, mit dem Kom- mentar: "Oh, das schaut lecker aus, ich habe zuletzt daheim warm gegessen, als meine Frau für mich gekocht hat!" Aha. Ich lasse mich nur ungern vergleichen. Und überhaupt, auf Ehefrauen war ich gerade nicht gut zu sprechen...

Es kam der Tag, als ich meinen internationalen Trupp der Fürsorge von Jakobus überließ. Alles wussten nun wie "es ging" und ich wollte Zeit für mich haben. Meine eigenen Gedanken. Die immer wieder ins Krankenhaus nach Deutschland gingen. Man hatte G.O. sein Handy abgenommen, so gab es keinerlei Möglichkeit sich zu verständigen. Ich konnte nur hoffen, dass alles gut und für ihn gesorgt war!

Es war sicher "Zufall", dass einige Kilometer weiter vor der nächsten Bar eine Schlange von Pilgern anstand, um den bereits wohlverdienten Mittagskaffee zu ergattern. Hannes war ziemlich weit vorn, ich rannte clevererweise zu ihm hin ("Excuse me my husband is right over there"), drückte ihm meine Münze in die Hand und nahm ihm dafür den Rucksack ab, organisierte einen freien Tisch. So begann unsere Weggemeinschaft. Weil es immer geschieht, wie es denn sein soll...

Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, welch' wertvoller Mensch mir da begegnet war. Der morgens schweigend nach mei- nen Lebensmitteln griff und sie in seinem Rucksack verstaute, oder mir die Packtasche mit der Bekleidung abnahm. Das machte 1,5 kg weniger an zu schleppendem Gewicht aus. Ich hatte besonders klug sein wollen und mir neue Leichtwander-stiefel gekauft. Sie gut eingelaufen. Aber eben nicht bei Hitze und Bergstrecken, wie auch im norddeutschen Flachland?! Nie hatte ich eine Blase gehabt. Aber nun. Reichlich! Also kam die mir schon gut bekannte "Spanische Folter" zur Anwendung. Wir erinnern uns: Heißes Wasser, eine Packung Salz, eine Flasche Essig. Als Bad mindestens eine Viertelstunde zu ertragen!

Hannes schleppte das Zeug aus den Supermercados an, organisierte Eimer, las mir vor, während ich heulend und mit mit meinem Handtuch zwischen den Zähnen stumm litt. Falls sich nun jemand fragt, wie man sich dergestalt anstellen kann: Ein- fach das "Heilmitte"l mal ausprobieren, bei der nächsten (offenen) Wunde, reinigt, desinfiziert, zieht zusammen. Aber wirklich nur für ganz Hartgesottene zu empfehlen! Ferse vorher:

Und nachher (dieses Jahr neu angewendet, nach dem einzigen und gescheiterten Versuch geschlossene Schuhe zu tragen):

Alle Pilger / Wanderer und ähnl. Geplagte mögen den ganzen teuren Mist (Compeed z.B.) oder gefährliche Tipps wie: "Ziehe Fäden durch die Blase, um Flüssigkeit abzuleiten (super, mit unsterilisiertem Zeug aus dem Nähbeutel!)" in die nächste Tonne kloppen. Allenfalls noch ein Wundspray wäre gut, ab und zu zwischendurch, bis man wieder Essig, etc. zur Verfügung hat. Allerdings sind zur Anwendung der spanischen Methode eher schallgedämmte Räume sehr zu empfehlen. Oder Holzstäbe ( ein gefalteter Waschlappen funktioniert auch) um darauf zu beißen...

In jeder Herberge erwarb ich mir damit Respekt. Und Hannes sich immer mehr meinen. Wir waren uns in vielen Belangen sehr ähnlich. Er war ein paar Jahre jünger als ich, was man uns aber nicht unbedingt ansah und ich ihm eitlerweise nicht verriet. Für mich war er mehr und mehr wie ein jüngerer Bruder. Eines Tages bat er mich, von meinem Handy aus kurz daheim anru- fen zu dürfen. In diesem Gespräch redete er eigentlich ständig von mir. "Gabriele meint... hat auch gesagt... weiß, wie... hat mich ermutigt, zu..." Das erstaunte mich ziemlich. Zumal die Antwort kam: "Das scheint eine tolle Frau zu sein, da hast du aber wirklich Glück gehabt! Mach' bloß keinen Mist!" Was bedeutete das?

Aus dem zurückhaltenden Mann, der anfangs so traurig und in sich gekehrt war, entwickelte sich ein Mensch, der auf allen Fo- tos strahlte. Plötzlich auf Leute zuging, mit ihnen redete. Ich staunte, fragte nach. "Du bringst es mir doch bei, mit jedem Tag mehr! In mir ist ungeheuer viel, das heraus will. Ich habe es nur nie gewusst..." Und ich nicht, wie es war beschützt zu wer- den. Vor Betrunkenen. Lästigen. Und mit dem Problem Bettwanzen. Denn war man von denen erwischt worden, blieb einem jede Herberge versagt, dass war reichlich passiert unterwegs. Manchmal mussten Betroffene, die schon ausgepackt und ge- duscht hatten, ihren Kram daraufhin zusammenräumen und die Herberge verlassen, egal wie spät es schon war.

Eines Tages (oder besser gesagt "nächtens") hatte es mich erwischt. Genau im Gesicht, gleich an mehreren Stellen. Na super! Ich war ja immer so schön bis zum Kinn im Schlafsack eingewickelt und trug meine Schlafbrille, da hatten die Biester sich an den übrigen Hautstellen bedient... Sonst war ich immer vorne, wenn wir eine Herberge betraten, wegen Hannes' Unsicherheit, jetzt ging er zuerst und ließ meinen Pilgerausweis mit abstempeln. Er suchte ein Bett an der Wand im Halbdunkel, gab mir seinen Schlafsack als Schutz und wusch meinen gesamten Kram, einschließlich Rucksack. Alles!

Dann kaufte er ein, bereitete mundgerecht zu und brachte mir alles ans Bett. Am Abend war mein Kram trocken, ich konnte meine eigenen Sachen anziehen und war mächtig froh. Hannes war zwischendurch in der Farmacia gewesen und hatte In- sektenspray und Heilsalbe organisiert. Er, der kein einziges Wort Spanisch sprach, traute sich plötzlich so etwas zu! Ich war ihm sehr dankbar. Ohne jedoch das ganze Ausmaß dieser Hilfe wirklich zu bedenken. Man hat manchmal echt ein Brett vor dem Kopf. Gerade auf dem Jakobsweg! Manchmal erst Wochen später - daheim - begreift man, welche Begegnung unter- wegs wirklich wichtig war. Und warum.

So hatten wir also gemeinsamVillamayor del Rio erreicht. Festgestellt, dass es keine Einkaufsmöglichkeit gab und aufgetischt, was wir bei uns trugen. Nie gab es eine Diskussion, wir verstanden uns längst blind, ohne Worte. Und wenn wir redeten, dann über Architektur ( hatte er studiert), Kunst und Holz. Denn er war selbstständiger Zimmermeister. Uns gingen also die verbin- denden Themen nie aus. Und auch G.O. war immer wieder eines. Zwangsläufig. Er begleitete uns sozusagen unsichtbar, bzw. auf den einlaminierten Fotos an meinem Rucksack, neben den Bildern meiner Kinder. Hannes sprach immer für ihn, versuchte mir männliche Denkweisen zu erläutern. Das habe ich ihm hoch angerechnet. An jenem Abend war unser Gespräch anderer Natur. Das versteckt sich in meinem relativ "dürren" Tagebucheintrag zum Sonntag, dem 23.9.2007:

 

 

Es war der Anfang vom Ende. Das abzuwenden gewesen wäre. Wie 1,5 J. später auch.

Aber ich tat (vermochte?) es nicht. Wirklich zu reden. So geschah, was unvermeidbar war...