Es ist schon weit nach Mitternacht
und im Garten gegenüber leuchtet ein Stern.
Die Weihnachtszeit hat begonnen.
Wie rasch ist wieder ein Jahr vergangen.
Manchmal frage ich mich,
wie oft ich das noch erlebe, oder ob ich nicht
noch zu jung für solche Gedanken bin.
Die Zeit rast jedenfalls für mich jetzt schon dahin...

Als ich noch klein war (vier oder fünf?),
machte meine Mutter mit mir eine Reise.
Jedenfalls empfand ich das so,
da ich sonst immer in der Wohnung war.
Es kam mir wie ein großes Abenteuer vor,
zumal mir meine Mutter eindringlich verbot,
meinem Vater etwas davon zu sagen,
es habe sonst sehr böse Folgen für mich!

Ich schwieg also darüber, von Angst erfüllt.
Vielleicht durfte man nicht mit dem Zug fahren?
Einen riesig großen Dom anschauen?
Kakao in einem Hotel trinken?
Auf dem Schoß eines Offiziers sitzen?
Irgendwann vergaß ich es wohl, fast jedenfalls...

Als ich zehn Jahre alt war,
da unternahmen wir auch eine Reise.
Dieses Mal aber mit unserem Auto.
Und mit dem Papa.
Vom Ruhrgebiet ging es nach Bremen.
Das war etwas, wo ich doch das Meer so liebte!
Und mir Schiffe anschauen konnte.
Mit einem Mann in Uniform,
den ich nicht einzuordnen wusste,
der mir aber irgendwie vertraut vorkam...

Er war streng und sprach nur im Befehlston.
Das ängstigte mich.
Aber seine Frau war liebevoll und herzlich.
Sie umarmte mich immer wieder,
strich mir über's Haar, schenkte mir etwas.
Z.B. ein Poesiealbum,
in das vorn ein Foto eingeklebt war,
von dem Mann in Bundeswehruniform.
Er hatte auch etwas darunter geschrieben.
Das ich nicht verstand...

Meine Mama und die Frau unterhielten sich oft.
Und sehr intensiv, es verband sie etwas.
Der Mann und meine Mutter redeten auch viel.
Mein Vater war irgendwie "über",
er schaute sich die Stadt an, fotografierte.
Das Ehepaar wollte mich mitnehmen,
in einen Urlaub nach Italien.
Es wunderte mich sehr, weil ich sonst wenig durfte,
ja regelrecht "bewacht" wurde...

Briefe gingen hin und her, Fotos.
Es wurde nichts aus Italien.
Stattdessen nahm der Mann mich mit in ein Zelt.
Ich schlief mit ihm in einem Campingbett,
in einem großen Schlafsack.

Am Ratzeburger See.
Darüber dachte ich nie nach.
Weil es grässliche zehn Tage waren.
Immer diese Strenge, der Befehlston.
Ich war froh, wenn ich umher stöbern durfte...

Irgendwie kam es danach zu einem riesigen Streit.
Mit viel Geschrei und Gefühlsausbrüchen.
Nach einer wahrhaft tragischen Theaterszene
fuhr meine Mutter mit mir heim.
Sie erklärte den Mann für "böse"
und jeglicher Kontakt wurde abgebrochen.

Das war jedenfalls die offizielle Version...

Ein paar Jahre später trennten sich meine Eltern
und für mich begann damit der Horror.
Waisenhaus, Kuren, Pflegestellen,
Monate allein in der Wohnung.
Ich lernte, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen konnte.
Und das ist wohl bis heute so geblieben...

Jahrzehnte vergingen.
Längst war ich selbst Mutter zweier Teenager,
hatte mein uraltes Haus in Emden gekauft,
leitete stellvertretend das ambulante Hospiz.
Als ich eines Tages einen Brief erhielt.
Er begann in etwa mit:
"Du erinnerst Dich sicher noch an mich?"
Allerdings und bestimmt nicht angenehm...

Es war der Bremer, später in Sonthofen stationiert.
Nun lebte er pensioniert dort in der Nähe und ich sollte ihn anrufen.
Es sei extrem wichtig!
Wir sprachen wohl eineinhalb Stunden miteinander,
dann reichte es mir, ich verabschiedete mich.
In diese Worte hinein hörte ich:
"Ich bin nämlich dein Vater!"
Es war ein Schock...

Ein großes Erbe habe ich ausgeschlagen,
weil ich einen hohen Preis dafür hätte zahlen sollen.
Der eine Vater wollte mich nicht,weil ich "nur" ein Mädchen war.
Oder ahnte er etwas?
Der andere wollte mich im Alter "kaufen",
nachdem die erste Frauvor Gram gestorben war
und jene, mit der er sie ewig betrog,
ihn endlich verlassen hatte...

In dieser Situation war ich ihm eingefallen.
Darüber habe ich schon geschrieben
und möchte es nicht erneut tun.
Ein rechtsnationales Scheusal hatte mich
einem Halbjuden "untergeschoben", ohne jeden Skrupel.
Im Weltkrieg grausam mordend,
weil das Todesurteil dazu ein gelber Stern war...

Das alles konnte und wollte ich nicht glauben,
schon gar nicht als ich ihn traf.
Kein Geld der Welt hätte mich veranlassen können,
mich um diesen bösen alten Mann zu kümmern.
Er schickte mir abschließend Kinderfotos.
Die ihm meine Mutter offensichtlich regelmäßig 

in all' den Jahren hatte zukommen lassen.
Kopien von Zeugnissen auch, und anderes.
Damit war "der Fall" für mich abgeschlossen...

Jedenfalls nach außen hin.
Noch immer weiß ich nicht,
wie es wirklich war und wer mein biologischer Vater ist.
Ich dachte immer:
"Die Zeit heilt alle Wunden!"
Das hatte meine Mutter auch oft gesagt,
wahrscheinlich habe ich's von ihr übernommen.
Es ist aber nicht so, manches tief drinnen bleibt,
ganz gleich, wie viele Jahre auch vergehen mögen...


Das grüne Poesiealbum habe ich immer noch.
Auf dem zweiten Blatt steht:

Zeit, nie habe ich dich gesehen-
doch habe ich dein Schreiten vernommen.

Für dich liebe stille Gabriele,
von Deiner Tante Thea


Sie war eine schöne und kluge Frau, er hatte sie nicht verdient!

Und mich auch nicht!!