Je älter wir werden,

desto mehr Erinnerungen sammeln wir an.

Gute und schwierige Zeiten haben wir erlebt.

Schmerz und Glück waren unsere Wegbegleiter.

Und all' die Grauzonen dazwischen.

Manches haben wir aufarbeiten können,

von anderem geschwiegen,

aus den verschiedensten Gründen.


Es ist, als hätten wir alles, was wir erlebt haben,

in einen Rucksack gepackt,

den wir seit vielen Jahren auf dem Rücken tragen.

Manchmal wird er so schwer und übervoll,

dass wir ihn nicht mehr bewältigen können.

Und wenn dann noch ein Ereignis dazu kommt,

können wir es nicht mehr einpacken, bewältigen.

Es überfordert uns und wir finden uns in der Welt nicht mehr zurecht...


Es beginnt dann vielleicht jene Zeit, die uns ängstigt.

Weil wir uns am Ende selbst nicht mehr erkennen,

die eigene Wohnung uns fremd wird,

früher vertraute Wege und Geschäfte nicht mehr gefunden werden.

Und dann sind da noch so viele Menschen, die alle einzuordnen sind.

Wer hieß noch wie und warum sehen alle so anders aus?


Irgendwo muss doch die Mutter sein,

die weiß immer Rat!

Ist es die nette Frau an meiner Wohnungstür?

Ach nein, dass ist ja die Tochter,

die gerade von der Schule heimkehrt-

aber das Mittagessen ist doch noch gar nicht gekocht,

der Mann wird auch schimpfen,

wo ist denn nur die Küche,

die war doch immer hier?

Da bleibt nur schreien, suchen, sich auf den Weg machen,

um das wiederzufinden,

was man irgendwo, irgendwie verloren hat...


Gerontopsychiatrie erklärt nicht Demenz.

Sie beurteilt sie und behandelt mit Medikamenten.

Das widerstrebte mir schon immer.

Aber es macht die Menschen leichter händelbar.

Praktisch, wenn man Minutenpflege vollziehen soll.

Was ich nicht wollte war mir immer klar,

aber was ich anders machen könnte nicht.

Denn das lehrt keine Wissenschaft.


Ich suchte und forschte, las kluge Bücher,

nahm an Seminaren teil.

Und dann trat sie in mein Leben:

Die Deutsch-Amerikanerin Naomi Feil.

Sie schrieb und referierte zum Thema "Validation"

und ich nahm begeistert an einem Workshop teil.

Endlich begann ich zu verstehen und nicht zu beurteilen.


Nun sah und dachte ich den Umgang mit meinen Patienten ganz neu.

Es ist schwer genug, wenn ein Mensch verwirrt ist.

Wenn er aber dazu körperlich erkrankt, wird es extrem schwierig.

Kann er allein in der Wohnung bleiben?

Wie lange noch? Wer zahlt? Wieviel, für welche Zeit?

Tut man dem Betroffenen gutes damit?


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Es war einer der üblichen Abenddienste.

Zwölf Patienten, da darf es nirgendwo "haken".

Alle müssen ins Bett wollen, nicht gestürzt sein, satt und zufrieden.

Denn jeder hat seine genaue Uhrzeit,

die er meistens gut kennt und beansprucht.

Bis auf meine verwirrten Patienten.

"Dem Glücklichen schlägt keine Stunde", sagt der Volksmund.

Dem Unglücklichen aber auch nicht.

Was weiß er von Zeit, oder der Welt "da draußen"?

Sie ist für ihn nicht mehr relevant.


Ich klingelte wie an jedem Abend an der Tür,

bevor ich wie immer den Wohnungsschlüssel zückte.

Meine Patientin eilte mir entgegen, freudestrahlend.

"Das ist schön, dass sie auch kommen, ich hab' schon gewartet,

heute ist doch mein Geburtstag

und meine drei Brüder sind auch schon da!"


Es gab pures Wasser aus der Kaffeekanne,

ich sang mit ihr ein Geburtstagslied,

bürstete ihr die Haare, was sie sehr liebte und brachte sie zu Bett.

"Haben sie auch jüngere Brüder?"

Ich verneinte. "Aber eine große Schwester!"

Sie freute sich für mich.

"Ohne meine kleinen Brüder hätte ich nicht leben mögen,

ich hab' immer auf sie aufgepasst, die Mutter hat hart gearbeitet".


Liebevoll strich ich ihr über die Hände.

"Bis morgen früh, dann komme ich wieder!"

Licht aus, Tür etwas geöffnet.

Den Tisch räumte ich noch ab,

schüttelte die drei Sofakissen auf,

stellte die nicht brennende Kerze zurück auf's Sidebord.

Neben die drei goldumrahmten Fotos mit den Trauerbinden.

 Kriegsorden lagen davor,

die hatte man den Angehörigen offenbar als Trost geschickt.

Willi, Fritz und Karl schauten ernst auf den Bildern,

in ihren Wehrmachtsuniformen.

Sie wollten wohl erwachsen aussehen, wurden es aber nicht... 


Leise zog ich die Wohnungstür zu,

spürte einen tiefen Schmerz in mir.

Es blieb keine Zeit, ich hatte sie einfach nicht.

Und die damalige Familie auch nicht.

Was waren schon fünfundfünfzig vergangene Jahre?

Wenn Liebe aus Kissen Brüder zu erschaffen vermag!