Das Licht fällt seltsam gedämpft in den kalten, dunklen Raum. Durch ein rundes, leicht gekipptes Fenster mit farbiger Bleiverglasung. Der Mann liegt in seinem Sonntagsanzug mit weißem Oberhemd und Krawatte im Sarg mit Seidenbettzeug. Fremd sieht er aus. Erstarrt. Nicht schlafend. Er kann sich nicht wehren, sonst täte er es. Denn er war immer so eitel mit seiner Frisur, hat den Scheitel auf der linken Seite stets messerscharf, wie mit dem Lineal, gezogen. Nun ist er rechts. Der Bestatter wusste es wohl nicht anders. Oder dachte, es sei den Angehörigen gleichgültig. Ist es aber nicht.


Die Frau tritt zögernd nahe an den Toten heran, um die Haare in die gewohnte Ordung zu bringen. Es ist das Letzte, was sie für ihn tun könnte. Aber dann erkennte sie die brutalen Schnitte der Obduktion und bleibt stehen. Der Kopf ist hohl, ohne das Gehirn, das ihm immer so wichtig war. Zu denken, das bestimmte sein Journalistenleben. Am Hals sieht man deutlich weitere Spuren. Da nützen auch weißer Hemdkragen und eng gezurrte Krawatte nichts. Die Organe wurden auch entnommen. Obduktion wegen Mordverdachts. "Polizeileiche" steht im Aufnahmebuch des Friedhofs.


Drei Jahre später ist ein Sarg geschlossen. Das wäre besser so, hatte man im Krankenhaus erklärt. Nun steht er in einer Friedhofskapelle auf einem Rollwagen. Vier Männer in schwarz warten auf die Frau mit ihren Kindern. Nun ist sie es, die steif und mühsam Haltung bewahrend, den Raum an einem regnerischen Oktobertag betritt. Die kleine Prozession setzt sich wortlos in Bewegung. Es geht alles schnell. Sarg in die Erde, Blumenstrauß auch, der Bestatter drückt gezwungen mitleidig die Hand der Frau und raunt ihr gleichzeitig zu: "Die Rechnung zur Beerdigung ihrer Mutter gebe ich noch heute zur Post!"


Wieder ist ein Hausstand auszuräumen. Zu renovieren. Miete, Telefon, Strom und Gas sind zu bezahlen. Möbel zu verkaufen, abzubauen, zu liefern und aufzubauen. Mit einem kleinen Polo und für 50 DM. Die Kohlen aus dem zu räumenden Keller will ein Händler freundlichweise kostenlos nehmen, wenn sie fertig in Säcke geschaufelt und abholbereit im Hof stehen. Die Frau fährt nach der Arbeit hin und tut wie erwünscht. Fegt danach, und kehrt rabenschwarz wie ein Zechenkumpel abends zurück, an den Rand von Dortmund.


Die Kinder haben viel verkraftet. Zu viel vermutlich. Die Frau aber auch. Alleinerziehend, Vollzeitjob, Haushalt. Und drei Todesfälle innerhalb weniger Jahre. Alle drei unnatürlich. "Ich nicht!" denkt sie und versteht, dass sie fort muss. Von all' den Erinnerungen. Den Straßen, den Ortsschildern, den Städten, in denen sich alles abspielte. Sie will leben. Neu anfangen. Fröhlich sein. Nicht nur an Gräber denken. Die Arbeit. Die Kinder, die nachmittags allein sind und auf die Mutter warten, in der kleinen Wohnung mit den zwei Zimmern.


Es dauert etwas, aber dann schafft die Frau den Neuanfang. In der Zeitung las sie immer von günstigen Immobilien im Norden Deutschlands. Sie hat über Jahre gespart, auf jede Mark geachtet, ihre Suzuki verkauft. Nun ist Startkapital da und nach zwei Besuchen in Ostfriesland eine kleine Doppelhaushälfte gefunden. Wochenlang wird die Strecke am Wochende hin und her befahren, mit vollgepacktem Auto, oder im zum ersten Mal im Leben gemieteten LKW. Mit Werkzeug, neuen Tapeten, Teppichböden, Möbeln und Lampen. Das Haus ist günstig, aber in katatrophalem Zustand, da von Alkoholikern gekauft. Es gilt zu entmüllen, zu entsorgen, zu tapezieren, zu streichen, neue Decken einzuziehen, Fussböden zu betonieren, zu verfliesen, Türen einzubauen. Bei der allerletzten Fahrt (nach Übergabe der Wohnung im Ruhrgebiet) mit Miethänger, Kindern und Katzen gibt das überladene Auto auf. Übernachtung im Maisfeld...


Die Anfangszeit in der Fremde ist mehr als schwer. Die Kinder müssen sich an neuen Schulen zurecht finden, alle zusammen in einer ostfriesischen Kleinstadt. Unter nur alten Nachbarn in der Straße, die die Familie ungefragt adoptieren. Endlich tut sich etwas in derem Leben, kommt Bewegung in den Alltag. Die Frau passt sich an, weil sie denkt, das wäre richtig so. Schließlich sind sie die "Auswärtigen", die sich einzugliedern haben. Sie geht mit zum Seniorenturnen, kegelt, boßelt, handarbeitet jeden Montag reihum mit, bäckt Kuchen, besucht Feste und richtet selbst eines zum Einzug aus. Nur nicht auffallen!


Genau das aber passiert dem Jungen. Er testet aus, wie weit man in einer Schule gehen kann. Hausaufgaben macht er nicht, mit den Lehrern diskutiert er. Das ist man dort nicht gewohnt. Telefonate. Lehrergespräche. Warum lässt man ihn nicht sein, wie er ist? Die Noten sind doch gut?! Wozu soll die Mutter einen Zehnjährigen denn unter diesen Umständen zwingen? Er hat aus Westfalen eine Empfehlung für's Gymnasium mitgebracht und muss in Ostfriesland noch mal in eine "Orientierungsstufe" gehen, weil das in Niedersachsen so ist. Kein Wunder, dass er genervt ist!


Das Ende vom Lied: Er soll zur schulpsychologischen Beratungsstelle und einen Intelligenztest absolvieren. Den hält die Frau für überflüssig, gibt aber nach. Nur kein Ärger mit den Lehrern, das wird am Kind ausgelassen. Sie gehen also hin. Und das Ergebnis fällt aus wie erwartet: Hochbegabung! Der Psychologe ist im passenden Alter (Ü30) und von der jungen Frau angetan, was sie aber überhaupt nicht begreift. Sie ist Mutter, Nachbarin, Kollegin, Katzenfütterin, usw. Frau nur in zweiter, oder dritter Linie. Daran denkt sie gar nicht.


Ach ja, Freundin ist sie auch noch. Denn eines Tages klingelte es spätnachmittags an der Haustür, eine Frau stand davor und fragte: "Haben sie einen Sohn, etwa so groß (sie zeigte eine Höhe an), blonde Haare, blaue Augen? Und kommen sie aus dem Ruhrgebiet?" Da kam sie auch her, war von Ostfriesen bedient und freute sich über jemanden, von dem sie dachte besser verstanden zu werden. In gewisser Hinsicht war es ein guter Kontakt, da ständig neue Ideen aufkamen. Es gab nicht nur Haus, Arbeitsstelle und die Kinder. Da war auch noch so etwas wie "Leben" und das fehlte gänzlich!
Beide zogen nun durch Cafés, schauten sich Modeboutiquen und Imbissbuden an (ein Ereignis für die kleine Stadt), lagen am Strand. Die Nachbarinnen protestierten ob dieser Wandlung. Nicht beachtend, dass sie alterstechnisch fast die Grosseltern hätten sein können. Und niemanden als bequemes Taxi in die umliegenden Städte gepachtet hatten.


Vermutlich hätte die Stimmung sich irgendwann beruhigt. Aber die Freundin hatte eine fatale Idee: Grill, Modeladen, Park im Nachbarort, Hafen und Strand genügten nicht mehr. Eines fehlte noch: Die Diskothek! So einen Laden hatte sie noch nie von innen gesehen. Und die Frau auch nicht, diese Erfahrung war irgendwie an ihr gänzlich vorübergegangen, eine Teenagerzeit hatte es für sie mit der kranken Mutter nicht gegeben. Und sie vermisste sie auch nicht. Ein Tanzlokal stellte sie sich verraucht, dunkel und mit angetrunkenen Dorfjungs bestückt vor. Danach stand ihr überhaupt nicht der Sinn, schon gar nicht nach der Samstagsschicht.


Aber es half nichts. Am späteren Abend stand die Freundin im Sonntagsausfit vor der Tür. "Sowas trägt man hier also in einer Disko", bemerkte die Tochter leicht spöttisch. Die Frau sagte gar nichts. Sie befürchtete so ziemlich das Schlimmste. Und hätte sie geahnt, dass ihre ärgsten Träume weit übertroffen werden würden, sie wäre zurück zum Fernseher gegangen. Aber nun stellte sie sich der Prüfung, denn die Freundin hatte die Angewohnheit sich zwar für etwas zu begeistern, nach einer Viertelstunde aber das Interesse daran extrem zu verlieren. So war sie z.B. nach 10 Minuten Yoga in der VHS ohne Erklärung geflohen. Es galt also eine solch kurze Zeit zu überstehen, um ein für allemal die Sache los zu sein!


Was sollte sie nur anziehen? Zu dritt überprüften sie den mageren Inhalt des Kleiderschrankes. Jeans. Und Jeans. Und nochmal... Blusen. Pullover. Westen. Mützen. Socken. Tja... Es wurde also eine schwarze Hose ausgewählt. War ziemlich neutral. Eine lange Bluse dazu, in giftgrüner Glanzoptik. Und schwarze Schnürschuhe. Immer wieder mit Protest: "Ich habe nichts anderes, weil ich es nicht brauche!" Basta! Die Tochter holte einen engzahnigen Kamm herbei und toupierte die Haare zu einer Art Ball auf.


Schminkte. Versprayte Haarspray und Eau de Cologne in Unmengen. Schob zufrieden die Mutter vor den Flurspiegel, woraufhin dort ein Aufschrei erfolgte. "Auf keinen Fall gehe ich so aus dem Haus, ich sehe ja aus wie ein aufgemotzter Königspudel bei der Hundeausstellung!" Aber es half nichts. Beide Frauen machten sich zu Fuss auf. Benzin gespart. Trafen um kurz vor dreiundzwanzig Uhr im Tanzschuppen ein. Eintritt gespart. Ohne Jacken. Garderobengebühr gespart.


Sie wählten den Tisch nahe am Ausgang. Weg durch die Disko gespart, falls es öde würde. Der Kellner kam. Was trinkt man denn hier so? "Cola Cognac" antwortete er. Und Getränkekarten gäbe es nicht. Die Frauen gaben auf. Und bestellten das vorgeschlagene Getränk. Der Kellner kam mit kippelndem Tablett und schüttete mal gleich ein halbes Getränk über die jetzt noch giftigere grüne Bluse und die schwarze Hose. Alles klebte.


Die Frau wollte gerade entschieden aufstehen und gehen, da kam der Kellner mit Lappen und Handtuch. "Passiert schon mal! Aber hier ist es ja dunkel, da sieht keiner was!" Von wegen... Warum war es denn überhaupt so schummerig? Und wenn man mit dem Rücken zum Geschehen Platz genommen hatte, sah man ohnehin nichts. Hörte nur die laute Musik. Was für ein Horror. "Ab Mitternacht geht's erst richtig los," murmelte jemand. Na, da stand ja etwas bevor!


Es kam wie angekündigt. Nur schlimmer. Noch vor 24 Uhr wurde die Musik auf mehrfache Lautstärke gedreht, dafür das Licht auf mittleren Schummer. Und wäre das nicht schon genug gewesen, strömten nun größere Mengen Jugendlicher herein. Ein Trupp nahm rings um die Frauen Platz. Wenigstens waren einige Erwachsene dabei. Die würden hoffentlich aufpassen.
Einer dieser Männer besaß aber tatsächlich die Unverschämtheit, die Frau zu fragen, ob sie mit ihm tanzen wolle?! Sie schüttelte sofort heftigst und ablehnend den Kopf. Denn sie konnte überhaupt nicht tanzen. Die Mutter hatte es ihr jahrzehntelang vorgeworfen. "Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen, nicht einmal die einfachsten Schritte bringst du zuwege!" Das entwickelte sich mit der Zeit zu einer regelrechten Phobie...


Der Mann gab einfach nicht auf. Und die Freundin (inzwischen längst in Aufbruchsstimmung) sagte: "Tanz' doch wenigstens ein einziges Mal, dann geh'n wir!" Das war der Auslöser. Drei Minuten auf den Füßen herumtrampeln und danach nichts wie raus! Der letzte schwache Versuch: "Ich kann gar nicht tanzen!" Antwort: "Mit mir kann es jede Frau!" So ein Rotzlöffel, ein Angeber, was dachte der sich, hielt sich wohl für die Krone der Schöpfung?! Der hatte die Blamage verdient, aber dreifach...


Entschlossen schob die Frau den Stuhl zurück und stürmte in Richtung Tanzfläche, die schon gut besucht war. Da würde sie gar nicht groß auffallen und dann nichts wie weg. Sie drehte sich um und sah den Mann zum ersten Mal an. Groß, schlank, chic angezogen, strahlendes Lächeln. Dann schaute sie höher. In seine Augen. So blau, wie der Himmel über Ostfriesland, wenn die Sonne scheint und der Wind die Wolken davon gejagt hat.


Er nahm sie in die Arme, hielt sie ganz fest und sie bewegten sich, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Schauten sich an und vergaßen die Welt um sich her. So tanzten sie bis zum Morgen und hätte man den Laden nicht geschlossen, so hätten sie wohl nicht aufgehört. "Darf ich dich heimbringen? Dann bin ich beruhigt, dass du heil angekommen bist!" Sie nickte und Hand in Hand liefen sie zum Haus. Dort tranken sie Kaffee, hörten Musik und erzählten sich wer sie waren, was sie beruflich und privat taten und überhaupt.


Sie trafen sich am nächsten Wochenende wieder. Und an fast allen folgenden. Manchmal freitags und samstags. Die Nachbarn redeten. Die Freundin war irritiert. Nur die beiden Protagonisten kümmerten sich nicht darum. Sie waren verliebt und entschieden: "Wir leben es so lange, wie es möglich ist!" Sie tanzten sich durch Ostfrieslands Diskotheken und oft gab man ihnen Raum auf der Tanzfläche, als seien sie von etwas Besonderem umgeben.


Eines Tages begegnete ihnen eine Männerclique mit großer Begeisterung. "Hier treibt ihr euch herum, man hört ja vieles..." Es waren die Freunde seit Kindertagen, die manches zu erzählen wussten. "Ist dir klar, dass er der beste Segler der Küste ist?" Nein, woher, darüber hatten sie nie gesprochen. "Und, dass er die schnellsten Jachten entwirft und baut?" Nein, denn er war kein Angeber. Sondern ein engagierter Handwerksmeister. In einem ganz anderen Bereich, obwohl der auch mit Holz und Metall zu tun hatte. Was die beiden Menschen verband, wie so vieles andere auch...


Sie erzählten sich aus ihrem Leben, sprachen über die Kinder, Berufe, verpasste Träume und Chancen, darüber, warum sie so viel arbeiteten, was ihnen schwer auf dem Herzen lag und worüber sie lachen konnten. Und obwohl sie vieles verband, trennte sie auch einiges. Das ließ sich nicht leugnen. Er war Ostfriese. Bodenständig. Selbst die nahen Niederlande waren absolutes Ausland für ihn. Da segelte er nie hin, während die Frau das Land besonders liebte.


Immer mehr Unterschiede und damit Gräben taten sich auf. Sie stritten und versöhnten sich. Lachten und weinten. Segelten bis zum Horizont und noch weiter. Ließen die große Jacht "trockenfallen" im Watt und fanden es herrlich auf Stunden von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Aber das war nicht der Alltag. Der trennte sie. Dazu kam, dass die Frau ihr kleines Haus verkaufte und gegen ein großes in einer so einige Kilometer entfernten Stadt tauschte. Es war wie ein erstes Signal.


Er kam, so oft er es konnte. Sie tanzten und gaben sich all' die Zärtlichkeit, die sie seit Kindertagen entbehrt hatten. Aber etwas stand zwischen ihnen, das nicht zu überwinden war. Und unausgesprochen bleiben musste. Weil vielleicht beide fürchteten, dass es das Ende ihrer Liebe bringen könnte.


Eines Tages klingelte spät am Abend das Telefon. Einer der Segelfreunde war am Apparat. Es wurde ein langes Gespräch. Das all' jenes enthielt, worüber zuvor nie gesprochen worden war. Die Frau hörte zu. Obwohl sie lieber aufgelegt hätte. Denn sie ertrug die Worte nicht. Weil sie die Wahrheit darin erkannte. Die sie beide die ganze Zeit über verleugnet hatten. Kann man selbst glücklich werden, wenn das Glück des geliebten Menschen vielleicht darüber zerbricht, weil er sein ganzes bisheriges Leben aufgeben müsste?


Heute, jetzt in diesem Augenblick, denkt sie, dass alles falsch war, was dann geschah. Vielleicht fehlte es noch an Lebenserfahrung. Vielleicht war aber auch bereits zuviel davon da. Sonst hätten die beiden Menschen sich besser selbst zusammengesetzt, oder in die Arme genommen und hätten miteinander geklärt, was zu bereden war. In Liebe und Vertrauen. Offen und ehrlich. Vielleicht wären sie gemeinsam zu einer ganz anderen Entscheidung gelangt als jener, zu der die Frau in jener Nacht kam.


Zunächst wich sie Begegnungen aus. Fand keine Zeit mehr, um tanzen zu gehen. Nahm das Telefon nicht ab. Bis sie glaubte stark genug zu sein. Dann nahm sie den Hörer ab und eisenfest in die Hand, setzte sich ins große Treppenhaus, auf die lange Wendeltreppe, die oben irgendwo im Nichts zu verschwinden schien, so wie eine Liebe, die sie nun mit Gewalt beenden wollte. Sie zwang sich laut und kalt zu sprechen. Sagte dem schweigenden Mann am anderen Ende der Leitung was sie sich vorgenommen hatte. Dass sie einen Anderen kennengelernt hätte. Der ihr viel bedeute.


Er sagte immer wieder, dass er es nicht glauben könne. Dann fragte er nach, wie weit diese Beziehung ginge? Sie log. Bis er weinte. Da verließ sie alle Kraft. "Ich wünsche dir alles Glück der Welt," sagte sie und meinte es auch so. Dann legte sie auf und schrie. Sie dachte ihr Herz sei gerissen. Sie schrie mit einer Stimme, die sie selbst nicht erkannte. Wie ein schwer verletztes Tier. Etwas starb in ihr, damit er leben konnte.


Manchmal fuhr sie abends in seine Stadt. Um die Zeit, wenn er aus seiner Werkstatt kam und ins Auto stieg. Es waren nur Sekunden, in denen sie ihn (hinter einer Hecke versteckt) sehen konnte, aber es war besser als nichts. Einmal hatte es geschneit und als er fort war schlich sie in den Hof, kniete sich hin und legte ihre Hände in die Abdrücke, die seine Schuhe im Schnee hinterlassen hatten. Als könne sie dadurch irgendwie eine fragile Verbindung zu ihm herstellen.


Ein Zufall wollte es, dass sie ihn viele Jahre später noch einmal sah. Der Wetterbericht hatte einen Sommertag angekündigt und sie hatte sich spontan einen Urlaubstag genommen. Vor lauter Patienten und Angehörigen, Ärzten und Apotheken sah sie nichts sonst mehr. Es war Zeit für Sonne. Oder anderes? Hatte da jemand am Rad des Schicksals gedreht?


Gut gelaunt stand sie am Mogen früh auf und fuhr zum Fährhafen nach Norddeich. Parkte und ging entspannt an Bord. Eine Stunde Fährfahrt stand bevor (das war schon ein Ausflug für sich) und sie blieb an Deck, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen und den Wind durch ihre Haare fahren zu lassen.
Dann sah sie rasch eine Segeljacht näher kommen. Ein Boot, dass sie gut kannte! Er saß am Ruder, wie immer, bei sich ein fröhliches kleines Mädchen mit Schwimmweste. Er hatte sich immer so sehr ein Enkelkind gewünscht und nun war es offenbar da. Die Jacht zog nah an der Fähre vorbei (denn natürlich brauchte auch er tiefes Fahrwasser) und sie konnte ihm vom Deck aus direkt ins Gesicht schauen. Er lachte fröhlich mit der Kleinen und neckte sie, bis sie quietschte. Dann waren sie schon vorbei.


Es hatte sich also alles gelohnt. Der Verzicht. Der Schmerz um den Verlust. 
Es ging ihm gut. So wollte sie ihn in Erinnerung behalten. Mit diesem  fröhlichen Lachen, den wild zerzausten Haaren und an Bord seines geliebten Schiffes. 

Wenn der ostfriesische Himmel so richtig knallig ist, mit den typischen schneeweißen Wattewolken, dann denkt sie immer noch:


"Der Himmel ist so blau wie Johanns Augen!" Und lächelt...


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Manchmal habe ich seinen Namen gegoogelt, als das Internet um sich griff. 

Ab und zu fand ich etwas. Auch Fotos. Er alterte darauf. 

Wie ich auch, nur, dass er das nicht sehen konnte.


Gestern las ich seine Todesanzeige. Es war wie eine Eingebung. 

Wunderbare Worte haben seine Freunde für ihn gefunden.
Er war ein wertvoller Mensch, der vielen selbstlos geholfen hat. 

Nun ist er für immer davongesegelt.


Gestern war ich wie erstarrt, erst heute konnte ich weinen. 

Ich hoffe, er war glücklich in seinem Leben.
Dann hab' ich doch alles richtig gemacht...








Die LP von Veronika Fischer hab' ich mir damals gekauft. Ewig her.

Man nutzte noch Plattenspieler, ich muss also ziemlich alt sein inzwischen.

Den Songtext kenne ich immer noch auswendig. Seltsam.

Aber stundenlang, monatelang habe ich damals den Song gehört.


Denn: Er hatte mir ein Gefühl wie das Leben gegeben.

Ohne ihn hätte ich nie geahnt, dass ich tanzen kann.


Und es wäre mir damit etwas entgangen, was ich sehr geliebt habe...