Die anderen Großeltern



1880 wird in der Stadt Schneidemühl in Pommern, damals zu Preußen gehö-rend, heute zu Polen und mit wechselhafter Geschichte, ein kleines Mädchen geboren. Es ist eines von mehreren in der kinderreichen Familie und wird nicht besonders erfreut registriert. Es sind eher die Söhne, die in der preußischen Regierungszeit erwünscht sind. So teilt das zarte Kind das Schicksal seiner 73 Jahre später geborenen jüngsten Enkelin und fühlt sich ihm vielleicht gerade deshalb besonders verbunden.


Über die Kindheit ist nicht viel bekannt, die Eltern auch nicht. Sie kamen wohl gerade so mit ihrem schmalen Einkommen durchs Leben und waren froh um jeden Sohn und jede Tochter, die das elterliche Heim verließen, um ihr Heil irgendwo in der Welt zu suchen und nach Möglichkeit Geld heimzuschicken.


Alle ergreifen einen Handwerksberuf, den der Vater für sie aussucht, möglichst breitgefächert, damit man mit allem versorgt ist. Die kleine Ida erlernt also un-gefragt den Beruf einer Weißnäherin. Diese stellt zum Beispiel Aussteuerwäsche aus weißen Stoffen her, also Tischdecken, Laken, Bettwäsche, Unterbekleidung, Nachthemden und Stickereien auf denselben, aber auch auf Taschentüchern und ähnlichem.


Bald stellt sich heraus, dass nur Haushalte mit gutem Einkommen solches in Auftrag geben. Der Alltag besteht aus Flickarbeiten, das bedeutet zum Beispiel, aus zwei in der Mitte durchgewetzten Laken eines anzufertigen, um Geld zu sparen. Staat kann man damit nicht machen, weder als Besitzerin, noch als Näherin, aber die Zeiten sind hart und man muss im wahrsten Sinne des Wortes sein tägliches Brot verdienen.


Ida wird also in eine der gerade in Schneidemühl entstehenden Industriebetrie-be gesteckt, wo es um Massenfertigung, lange Arbeitszeiten und wenig Lohn geht. Das Mädchen ist aber bescheiden, in sich gekehrt und wehrt sich nicht gegen das Ansinnen des herrischen Vaters. Als dieser eines Tages erfährt, dass in Berlin sehr viel mehr Fabriken entstehen und höhere Löhne (soweit man dies so nennen kann) gezahlt werden, setzt man das schüchterne Mädchen mit ei-nem kleinen Bündel in einen Zug, der praktischerweise direkt von der Kleinstadt in die preußische Haupstadt fährt.


Für den Anfang soll das junge Mädchen in einem Haushalt tätig werden, bis es einen festen Arbeitsplatz in der Industrie und ein billiges Zimmer gefunden hat. Der Zufall (gibt es ihn?) führt sie als Hausmädchen in eine Familie des Bildungs-bürgertums. Ida ist fleißig, brav und wortkarg und darf bleiben. Die Fabrik bleibt ihr erspart und sie kann etwas Lohn an die Eltern abtreten. Vom Leben hat sie nie etwas erwartet und ist darum mit dem zufrieden, was sich für sie ergeben hat. Die drei Söhne der Arbeitgeber sind jünger als sie und für sie zu sorgen gehört auch zu ihren Aufgaben .


Der Sonntag ist nach dem Kirchgang frei bis zum Abendessen. Die jungen Leute treffen sich am Wannsee und an anderen Orten zum Tanz. Getränke darf man selbst mitbringen, nur ein geringes "Stuhlgeld" muss man für die Abnutzung des Sitzmöbels bezahlen. Es ist sicher der schönste Tag der Woche für die Jugendlichen der damaligen Zeit. Und es geschieht, was in den Diskotheken unserer Tage nicht anders stattfindet: Man verliebt sich, knüpft zarte Bande. Und manchmal wird mehr daraus.


So ergeht es auch Ida und ihrem Tanzpartner Herrmann. Normalerweise würde das niemanden interessieren, in diesem Fall aber schon, denn die junge Frau ist 4 Jahre älter. Und er dazu der älteste Sohn des Haushalts, in dem sie ein Zu-hause gefunden hat. Es würde vielleicht niemand erfahren haben und für immer ein Geheimnis geblieben sein, wenn Ida nicht schwanger geworden wäre. Was in der Familie einen mittleren Skandal auslöst. Was hätte nicht alles aus dem klu-gen Sohn werden sollen, und nun ist die Braut ein einfaches Mädel aus Pom-mern ohne Mitgift...


Es hilft aber alles nichts, das Kind ist unterwegs, die "Schande" nicht rückgängig zu machen, da der junge Mann nicht von der Liebsten lassen will, also wird ge-heiratet, ein paar Möbel werden gekauft, ein wenig Startkapital zur mehr oder weniger heimlichen Hochzeit gespendet und eine kleine Wohnung im fünften Stock angemietet. Zwar im dritten Hinterhof, aber mit fließendem Wasser in der Küche, Gasanschluss und einem WC im Hausflur für mehrere Familien. In einem der damals gerade typischen, neu entstehenden Arbeiterwohnblocks am Stadt-rand des wuchernden Berlins.


Der junge Familienvater ist noch nicht volljährig und erhält im nahen Siemens-Werk zunächst nur eine Art Lehrlingslohn, die werdende Mutter näht, stickt, strickt und wäscht für Kunden, denen das selbst zuviel Mühe machen würde. Schmalhans ist also Küchenmeister. Als der kleine Otto zu früh geboren wird, hat die Mutter keine Milch und in der Säuglingsberatung wird vorgeschlagen Kondensmilch zu verabreichen. Leicht verdünnt. Was die jungen Eltern mit ihrem geringen Einkommen dazu verführt, ein wenig mehr Wasser zu verwen-den, als angedacht. Otto wird also ein typisches Arbeiterkind des "Zille-Milieus": Er ist rappeldünn und zu klein. Beides wird er bis zum Ende seines Lebens bleiben.


Der Vater ist enttäuscht. Der Kaiser stellt sich andere Kinder vor. Und er sich auch, denn er verehrt ihn sehr. Zudem wird zwei Jahre nach Otto 1906 das zweite Kind geboren. Ein Mädchen, das den Namen Erna erhält. 1908 kommt dann das Wunschkind zur Welt. Und prompt auf "Wilhelm" getauft. 1911 folgt der kleine Friedrich, und der Vater ist stolz. Zwei gesunde Söhne, nun ist seine Welt in Ordnung! Doch zu seinem Leidwesen und ganz entgegen der Familien-planung wird 1912 ein weiteres Mädchen geboren: Hildegard. Und ein Jahr später noch eines: Elly Margarete. Es ist das letzte Kind, danach "hilft" ein Arzt, eine weitere Schwangerschaft abzubrechen und keine mehr entstehen zu las-sen. Zu krank und schwach ist die ausgemergelte Mutter inzwischen.


Das Seltsame ist, dass die drei Mädchen ihre Kinderzeit überleben, erwachsen und ihrererseits Mütter werden. Die drei Jungen haben das Elend der Armut ihrer Eltern zu tragen. Oder sollte man eher sagen: Die Folgen der Bedingungen von Arbeiterfamilien jener Zeit? Man könnte es auch einfach Schicksal nennen. Zufall. Verstrickung. Oder, oder...


Als Segen jener Tage gelten die Massenimpfungen der Kinder. Enge Wohnver-hältnisse, Lichtmangel, schlechte Ernährung. Viele Menschen leben auf engstem Raum zusammengepfercht. Epidemien bleiben da nicht aus. Die Mütter bekom-men Vorladungen. Und viele erscheinen, uninformiert was vorgehen wird. In gutem Glauben sozusagen. Otto wird geimpft. Erna wird geimpft. Willi trägt die Mutter auf dem Arm. Er ist erkältet. Auf dem Informationszettel stand, man solle nur gesunde Kinder vorstellen. Also ist der kleine Willi kein geeigneter Kanditat, er wurde nur mitgebracht, da keine andere Möglichkeit bestand. Über die Verweigerung wird der Impfarzt wütend: "Papperlapapp, was redet sie dumme Frau? Sie versteht doch von derlei Dingen überhaupt nichts! Halte sie die Reihe nicht auf, es wird ja schon der ganze Saal unruhig!"  Entgegen aller Vernunft wird er also geimpft.


Willi stirbt am übernächsten Tag. Ein Arzt wird im letzten Moment noch geholt (die 5 Mark für seinen Besuch mussten die Eltern erst mühsam leihen). "Wie kann man ein krankes Kind denn impfen lassen? Das ist eure eigene Schuld! Das habt ihr nun davon!" Voller Gram sitzen die Eltern weinend neben ihrem toten Kind. "Nun seht zu, dass ihr rasch einen Sarg bekommt, der Leichnam muss schnellstmöglich aus dem Haus, ich muss den Todesfall melden!"


Der Vater leert eine Wäschetruhe bringt sie nach unten in den Keller, zerlegt sie und zimmert einen Kindersarg zusammen. Der kleine Junge wird ein letztes Mal gewaschen und bekommt seinen Matrosenanzug angezogen. In der Kiste liegt unten ein Kopfkissen, Willi wird darauf gelegt. Im hölzernen Bollerwagen, mit dem sonst die fertige Weißwäsche ausgefahren wird, steht nun die schmale Kiste. Otto und Erna kauern stumm und wie versteinert daneben.


So erreicht die Familie den zuständigen städtischen Friedhof. Der Totengräber schaut sich die Sterbeurkunde an und nennt den Preis, wenn er ein Loch graben würde. Der Vater gräbt also unter Aufsicht selbst, stellt den Kasten vorsichtig hinein. Und schaufelt zu. Später bringt er ein hölzernes, selbstgeschnitztes Kreuz zum Grab. Darauf steht:


Wilhelm Krüger
2 Jahre


Der Friedhof ist voller Kindergräber. Eines mehr interessiert niemanden. Und es kommen täglich neue dazu. Auch die Familie Krüger wird wiederkehren...





- Wird fortgesetzt. -
Geschrieben am 22.07.2022