In Berlin kehrt Hermann Krüger aus dem Lazarett und anschließender Kriegsge-fangenschaft heim zu seiner Frau und den Kindern. Jahre sind vergangen, seit die Familie sich nicht mehr gesehen hat. Es ist das Jahr 1919, der Hungerwinter, die Menschen leiden und wissen sich nicht zu helfen.


In Essen wird im gleichen Jahr ein Junge geboren. Er ist zierlich, viel zu klein und schaut ernst mit graublauen Augen in die Welt. Als ahne er, dass sie kei-neswegs auf ihn gewartet hat. Frisch abgenabelt, gewogen, vermessen und bekleidet bringt man ihn auf die Säuglingsstation. Ohne, dass die Mutter einen Blick auf ihn geworfen hätte. Das ist ihr strikt untersagt, da sie das Kind zur Adoption freigegeben hat.


Der Kleine wird vom Amt "Peter" genannt und ins Waisenhaus überstellt. Sein Vater könnte ihn problemlos zu sich nehmen. Er ist der Bankdirektor Ernst C. und Chef der Commerzbank. Aber er hat seine Sekretärin sofort entlassen, als sie ihm unter Tränen gestand von ihm schwanger zu sein. Was wurde aus ihr? In keinem der Papiere wird sie mehr erwähnt. Für ihn veränderte sich nichts. Es war, als habe es die Angestellte und das uneheliche Kind nie gegeben.


In Berlin kämpfen die einfachen Menschen auf ihre Art um's Überleben. Mein Großvater zieht wie zigtausend andere Hungernde auch durch die Straßen. Es sind unruhige Zeiten, nicht nur politisch. Wo ein Menschenleben nichts bedeu-tet, ist das eines Tieres überhaupt nichts wert. Auch sie sind ausgeliefert, halb verhungert, heimatlos. Wenn nun ein Fremder kommt, freundlich und leise, vielleicht sogar mit etwas Brot, so kann er rasch das Vertrauen eines mageren Schäferhundes gewinnen. Und er läuft dem vermeintlichen Wohltäter sogar nach. Zu seinem Mietshaus, hinauf über all' die Treppenstufen in die kleine Wohnung und dort auf den Balkon. Die Familie hat zwei Tage lang eine warme Suppe mit Fleischeinlage. Und das Hundefell findet Käufer. Es geht um Leben und Tod. So oder so.


Auch Peter hat sicher unter Hunger zu leiden. Es ist die Zeit der neu entwickel-ten Kondensmilch. Reichlich mit Wasser verdünnt ist sie besser als nichts. Aber eben nur das. Doch die Waisenhäuser sind überfüllt und die Zeiten hart und herzlos. Ein Kind ohne Eltern überlebt, oder es stirbt eben. Wer fragt danach, bei all' den Toten. Und wenn jemand fragt, dann ist es ein Gewinnerlos, und in diesem Fall sogar das ganz große!


Aus Berlin ist ein vermögendes Ehepaar ins Ruhrgebiet gekommen. Nicht direkt nach Essen, aber ins nahe Dortmund. Die Frau stammt aus einer Mühlendy-nastie, der Mann ist Bankier. Und wird der Direktor der Commerzbank. Sie kaufen eine Villa in Bad Salzuflen und gehören auch dort zur Oberschicht. Alles könnte perfekt sein. Aber das Wichtigste fehlt: der Erbe des großen Vermögens! Doch es kommt und kommt kein Kind.


Bäderkuren helfen nicht, auch all' die verschriebenen Pillen und Pülverchen haben keine Wirkung. Irgendwann werden sie miteinander gesprochen haben. Sich beraten lassen. Und am Ende entschieden haben, dass nur ein Weg bleibt. Ein Rechtsanwalt wird beauftragt nach einem geeigneten Kind zu suchen. Unter zwei Jahre alt und ein Junge. Natürlich. Die Hauptbedingung allerdings ist so abenteuerlich, dass man darüber lachen könnte, wenn es nicht so traurig wäre: Das Kind soll der Sohn eines Bankdirektors sein. Denn dann würden Blut und Anlagen des künftigen Erben "passen". Ach, wie man sich doch täuschen kann...


Zwei Direktoren der Commerzbank. Beide in benachbarten Großstädten aktiv. Liegt es nicht nahe, dass sie sich kannten? Hat der eine vielleicht dem anderen unter dem Siegel des Vertrauens erzählt, dass es da ein Kind gibt, dass...? Vielleicht war es so. Vielleicht auch anders. Und der Anwalt hat brav geforscht und gesucht. Jedenfalls vermeldet er einen Volltreffer. Woraufhin das Kind besichtigt wird. Inzwischen zweijährig, still. Und wie viele Kinder dieser Zeit an Rachitis leidend, mit den typischen Erscheinungen. Krumme Beinchen, dünne Haare, Sehschwierigkeiten und Hörverlust auf einem Ohr.


Dass der Kleine nicht spricht wird ebenfalls auf die Verhältnisse im Waisenhaus zurückgeführt. Wenn ich heute Berichte von Kindern in solchen Einrichtungen sehe, dreht sich mir jedes Mal das Herz um. Die kleinen ausgestreckten Arme, die flehentlichen Blicke, der verzweifelte Wunsch nach Nähe, Kontakt, Gebor-genheit. Welche tiefgreifenden Schäden sind da nicht schon angelegt?


Peter wird sich vermutlich nicht anders verhalten haben. Vielleicht noch etwas misstrauischer, kritischer. Nichtsdestotrotz werden die Papiere geprüft, es wird beraten und abgewogen. War es wie auf dem Sklavenmarkt? Hat man auch die kleinen missratenen Zähnchen geprüft? Den Körperbau betastet, ein Verhör durchgeführt? Das verschlossene Kind erinnert sich später nicht. Erst an das Kinderheim in der Schweiz, in das es geschickt wird. Mit dem Fahrer des Di-rektors? Der Bahn? Niemand kann noch Auskunft darüber geben.


Wieder eine Einrichtung. Aber gut ausgestattet, in einem Land ohne Krieg. Mahlzeiten sind genug da. Aber auch sogenannte Streckmanschetten aus dickem, steifen Leder mit Metall sind an der Tagesordnung. Und Lichtbäder. Ein Jahr lang wird der Zweijährige aufgepäppelt und am Ende zum Fotografen ge-bracht. Um den zukünftigen Eltern das Ergebnis zu übermitteln. Ein Junge mit Steifftier (Affe) lächelt schüchtern in die Kamera. Schwarzweiss.


Die neuen Eltern sind zufrieden. Das Kind sieht gesund aus, ist der Mode ent-sprechend mit einem Matrosenanzug bekleidet, hört und spricht inzwischen, fühlt sich wohl mit den Kinderschwestern in den Bergen, an vollen Tischen und mit den Geschwistern auf Zeit. Es ahnt nicht, dass es ihm nie wieder so gut gehen wird. Und die Adoptierenden (längst aus dem Alter für Kinder heraus) wissen nicht was mit einem Kind im Trotzalter auf sie zukommt. Gewalt ist in dieser Zeit die angesagte Form von Erziehung. Man muss den Willen brechen. Was gelingt. Nur bricht man die Kinderseele gleich mit.


Der Junge wird später Vater von fünf Töchtern und zwei Söhnen werden. Und mit ihnen nur wenig anzufangen wissen. Er wird immer etwas suchen, sein Leben lang. Und es vielleicht nie gefunden haben. Aber er wird einer jungen Frau begegnen, die innerlich so einsam wie er selbst ist. Und das wird beide über viele Jahre verbinden. Bis zu seinem gewaltsamen Tod.


Sie ist die Mutter seiner jüngsten Tochter und seines jüngsten Sohnes. Manch-mal träumt sie noch von ihm. Wie eines Tages auf einem Jakobsweg im fernen Nordspanien. Er lacht im Traum wie früher, legt ihr einen Arm wie beschützend um die Schulter und setzt sich mit ihr in ein Cafè. "Das geht doch nicht," sagt sie verlegen, "du bist doch tot!" Er antwortet lächelnd: "Aber das weiß doch hier niemand!" Sie reden über die (mittlerweile erwachsenen) Kinder, über das Le-ben, Gott und die Welt.


Nie wieder habe ich danach von ihm geträumt, hat er mich gefragt wie es un-seren Kindern geht. Vielleicht, weil es nie mehr die richtige Zeit dafür war. Oder die nötige Situation dafür. Kann sein, dass ich mich entfernt habe von ihm. Er ist schon so lange tot. Vielleicht wollte ich ihm auch keine Antworten geben, weil ich einfach nicht gewusst hätte, was ich ihm erzählen sollte. Dass man mir inzwischen das Herz gebrochen hat und es nie mehr heilen wird. Dass unsere Kinder nicht mehr sind, wie sie einmal waren. Dass ich inzwischen älter bin, als er hat werden dürfen. Dass 1919 noch ein Junge geboren wurde. Der vermutlich mein Vater ist. Dass beide im Krieg waren, der eine im Westen und der andere im Osten. Der beider Schicksal war. Und meines wurde...