"Angst essen Seele auf". Als ich diesen Satz zum ersten Mal hörte nickte ich. Denn so ist. Ganz genau so!

Gestern war ich um halb sieben im Bett. Mir war schlecht, ich fühlte überall Schmerzen, war bleiern müde. Bin wohl auf der Stelle eingeschlafen. War dafür um Mitternacht wach. Der Knöchel des verletzten Beines hatte aufgelegen, das ist unerträglich! Kissen unter die Wade, damit der Fuß frei ist. Was nicht viel nützt. Es bohrt etwas infernalisch in den Knochen bis zur halben Wade hoch. Zugleich im Kopf. Migräne. Passt.

Am Nachmittag stehe ich vorsichtig auf. Geht. Mit dunkler Sonnenbrille und bei zugezogenen Vorhängen. Die Tür zur Werkstatt ist geschlossen. Blick hinein. Es fehlen nur noch ein paar letzte Leisten und Zierstücke - aber in meinem Kopf entsteht kein Bild, formt sich keine Idee. Leise ziehe ich die Tür wieder ins Schloss. Lesen mag ich nicht, der Computer ist uninteressant, essen kann ich auch nichts. Mir bleibt nur zu warten, dass die neue Nacht anbricht, ich mich wieder hinlegen kann.

Was ist nur aus mir geworden? So gern möchte ich mal wieder lachen und herumalbern wie früher. Aber mein (manchmal schwarzer) Humor scheint mir restlos abhanden gekommen zu sein. Wie so vieles andere. Mut und Kraft z.B. Ich bin müde. Als sei ich nach einem sehr langen und sehr anstrengenden Weg an ei- nem Ziel angekommen. Und fände kein neues.

Edward, Du weist mich auf den bevorstehenden Winter hin, erinnerst mich an eine Geschichte, die Du mir einmal erzählt hast und über die wir beide vergnüglich schmunzelten. Du meinst es gut. Möchtest mich er- mutigen, aufrütteln. Aber es ist einfach kein Haus da, um da es sich zu bewerben lohnen würde und ich kann keines herbeizwingen. Zudem bin ich derzeit zu nichts in der Lage, was meine körperliche Kraft benö- tigen würde. Einen Eimer Wasser nach oben ins Bad zu tragen verteile ich jetzt auf zwei Etappen, soweit hin bin ich. Möbel schleppen wäre unmöglich, eine Sanierung ohnehin. Ich bin kaputt. Fühle mich wie zer- schlagen.

Warum es ist, wie es ist, das weiß ich. Aber das ändert nichts daran, wie mein gegenwärtiger Zustand sich darstellt. Es muß einfach Zeit ins Land gehen. Abstand entstehen. Denke ich. Lasse aber zugleich meine Suchanfragen auf allen Immo - Portalen weiter laufen. Mehr kann ich nicht tun.

Obwohl erst vor ein paar Stunden aufgestanden, ertappe ich mich dabei, immer wieder auf die Uhr zu schielen. Um dreiundzwanzig Uhr könnte ich mich hinlegen, das wäre eine angemessene Zeit. Und ich seh- ne sie wahrhaftig herbei. Eine Viertelstunde vorher ein Geräusch, das ich immer wieder neu einordnen muss, da ich es so selten höre: Im Flur läutet das Telefon. Ich erschrecke, als mir das klar wird. Um diese Zeit? Das kann nichts Gutes bedeuten...

Bevor ich meine Lesebrille gefunden und den Hörer in der Dunkelheit aufgenommen habe, schweigt das Teil. Ich rufe mir die Nummer auf, schreibe sie ab und frage mich, ob sie mir irgendetwas sagt. Nein. Viel- leicht verwählt? Das wünsche ich mir. Weil ich merke, dass sofort Angst mein Herz umfasste. Ist meinem Sohn etwas geschehen? Würde man dann aber nicht mit einem Rollkommando an der Haustür klingeln? Aber eben das hätte ich ja nicht gehört um diese Zeit, dagegen habe ich mich ja abgeschottet...

Also Rufnummer googeln. Es handelt sich um eine Telekom-SMS erfahre ich da, die mir am Apparat vorge- lesen wird. Ich lege mir also Stift und Zettel hin, da läutet es schon wieder. Die Nachricht ist kurz, besteht nur aus zwei oder drei Worten, die nicht zu verstehen sind, auch nicht bei zweimaliger Wiederholung. Ir- gendetwas mit "GOTT". Oder "Tod". Ich möchte weder noch hören...

Danach wird mir eine Rufnummer angesagt. Die ich auch google. Zu meinem Erstaunen ist es die Handy- nummer meines (Asperger-) Nachbarn. Was hat das zu bedeuten? Ich suche mir seine Festnetznummer heraus und rufe ihn mit im Hals schlagendem Herzen an. Aber niemand hebt an. Danach renne ich über die Straße, suche nach seinem Auto. Doch es steht nicht da. Seltsam, um diese Zeit. Wo er wohl ist? Mir fällt ein, dass ich eine SMS schicken könnte, an sein Mobiltelefon. Um was es geht, dass ich den Roboter am Festnetz nicht verstehen konnte. Doch auch das bleibt ohne Antwort.

Eine Stunde lang renne ich durchs Haus. Über alle Etagen, von Fenster zu Fenster. Wünsche mir mein Mann wäre da. Zum ersten Mal seit seinem Tod. Weil wir die Eltern sind. Weil wir Leid miteinander teilen würden in schweren Stunden. Nach unserer dramatischen Trennung haben wir Jahre später echte Freunde werden können. Die sich Tag und Nacht aufeinander verlassen konnten. Denn so haben wir gehandelt. Er hätte mich getröstet, ich wäre nicht allein gewesen. Aber so ist es nicht.

Ich will nicht, dass es an der Tür klingelt. Mehrere Beamte da stehen und mich fragen: "Sind Sie Frau R.? Wir müssen Ihnen eine Nachricht überbringen!" Ich will das einfach nicht mehr. Weil ich mit meiner Kraft am Ende bin. Weil ich das schon mehrfach so erlebt habe. Es wäre vielleicht besser gewesen für eine Wo- che zu flüchten. Mir einzureden, dass nur der Augenblick zählt, der Geruch des Meeres, die grüne Farbe des Flusses, die Stimmung der Altstadtviertel, Fado-Klänge. Zu spät. Ich hätte es nicht geschafft, das war die Realität.

Nun sind eineinhalb Stunden vergangen. Und ich bin ohne jegliche Antwort geblieben. Was sollte mir mit- geteilt werden? Ist etwas geschehen? Vielleicht findet alles eine amüsante, lockere Aufklärung. Über die man lachen kann. Weil man erlöst ist. Doch ich ahne, dass mir wieder eine schwere Nacht bevorsteht. Ich bin all' das leid, so unendlich und zutiefst leid. Dieser rote Faden durch mein Leben muss doch irgendwann einmal durchtrennt werden können?! Das alles muss doch mal aufhören?! Ich möchte nicht vor irgendetwas weglaufen - ich möchte auf ein Ziel zugehen. Denn sich selbst nimmt man immer mit, ganz gleich, wohin auch immer man geht. Ob sich dieses Rätsel morgen auflöst?

 

(Tobbe Malm, "Verlassen")

 

Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wusste.

(Marlen Haushofer, "Die Wand")