Das Küken glaubt oft klüger zu sein, als das Huhn. Trifft das auch auf Patienten und ihre The- rapeuten zu? 2008 hatte ich eine Warnung mitbekommen, die lautete: "Sollten Sie noch einmal auf den Jakobsweg gehen, dann auf keinen Fall mit Frau K.!" Aber gerade mit ihr war eine Freundschaft entstanden. Die auf einem gewissen Abstand beruhte. Den ich auch brauch(t)e. Wir trafen uns immer donnerstags in Hamburg und machten uns ein paar fröhliche Stunden, mit bummeln, stöbern in Buchläden und einer mittig geteilten Pizza am Abend. Es gab Warn- zeichen. Aber ich übersah / überhörte sie. Alle Menschen haben Eigenarten, irgendetwas muss man immer in Kauf nehmen...

Mehrfache Rentenanträge ihrerseits waren abgelehnt worden. Mit meiner Unterstützung stellte sie einen neuen. Alles, was ich inzwischen von der Thematik wusste, das kam ihr zugute. Ein- schließlich meiner Begleitung zum Gutachter mit vorheriger Verhaltenssschulung. Der Erfolg: Verrentung auf Dauer! Alle qualvollen Nachprüfungen, die ich hatte ertragen müssen, die blie- ben ihr erspart. Irgendwie machte mich das sprachlos, andererseits freute ich mich natürlich für sie. Die Steigerung: Da sie einige Jahre jünger war als ich und kaum gearbeitet hatte, war ihre Rente wesentlich höher als meine, da fiktiv errechnet. Zudem hatte ihr getrenntlebender Ehe- mann ihr eine Eigentumswohnung gekauft, zahlte einen guten Unterhalt und jede Menge "Ex- tras". Eigentlich ein Verhalten, wie es ein Vater seiner Tochter gegenüber zeigt...

Wir sind alle so, wie wir sind. Die Einen haben gelernt stets zu kämpfen, die Anderen sind an Geschenke gewöhnt. Hätte mich das warnen sollen? Heute vielleicht. Damals fehlte sie mir noch. Die Erfahrung des Weges, den wir miteinander bestreiten wollten. Ich machte den Ver- such endlich die richtigen Stiefel für mich zu finden, was mir mit einem Ebay - Glücksgriff tat- sächlich gelang. Dazu ergatterte ich in den USA einen ultraleichten Rucksack.

Meiner Freundin wurde die gesamte Ausrüstung vom Ex gesponsort, so fuhren wir mehrfach zu Globetrotter und ich beriet geduldig, welches die beste Ausrüstung sein würde. Es wurden Schuhe für 300€, der Rucksack kam auf den gleichen Preis, es brauchte Hosen, Jacken, Shirts, usw., dazu Trinkflasche, Trekkinghandtuch etc. Es machte mich sprachlos, was das alles koste- te, wenn es immer das Teuerste und Beste sein sollte. Das allein würde keinen Erfolg bringen. Ich riet dazu die Schuhe einzulaufen, sich an den Rucksack (beladen) zu gewöhnen und daran, dass dies bald zum Tagesablauf gehören würde. Meine gute Fee verfolgte das Ganze mehr oder weniger belustigt  am Telefon und sprach den klugen Satz, der alles was kommen sollte auf den Punkt brachte: "Egal was der ganze Luxuskram kostet, laufen müssen ihre Beine trotzdem al- lein!" Wie wahr...

Sie las meine Bücher zum Camino, ich lieh ihr meine DVDs aus, wies sie auf's Forum hin. Um sie keinesfalls blindlings ins offene Messer rennen zu lassen. Kurz vor knapp (wenige Tage vor dem Start) erfuhr ich vom Erfolg meiner Bemühungen. Als Vorbereitung war ein Kurs "Bauch, Beine, Po" belegt worden und täglich wurde ein Sonnenstudio aufgesucht. Warum? Klare Ant- wort: "Na schließlich will man doch den Männern unterwegs gefallen!" Somit war klar, wozu der Camino offensichtlich dienen sollte. Denn der Begriff "Pilgerweg" war vorher schon stets mit Spott bedacht worden...

Am späten Nachmittag "feierte" ich den Abschied in der Tagesklinik, am Folgetag traf meine Freundin hier ein. Zur Erholung. Sie war merkwürdig verändert. Gereizt, aggressiv, geradezu in Panikstimmung. Heute denke ich, sie begriff damals, dass es nun ernst wurde. Gezwungener- maßen hatte ich mich um alle Vorbereitungen gekümmert, ganze Nächte hindurch wegen der Anreise gegoogelt. Wir hätten relativ preisgünstig nach Biarritz fliegen können, allerdings mit Flugzeugwechsel in London. Das ginge gar nicht, so musste ich mir anhören. Zwei Starts und Landungen? Never!!

Heute würde ich sagen: "Dann organisiere Du, ich bin flexibel. Ob Flug, Bahn, Bus, Boot: egal!" Aber die Alarmglocken schrillten (noch) nicht. Wir alle verfügen über Knöpfe, die Menschen welche uns gut kennen oft sehr geschickt zu drücken wissen. Bis wir eines Tages bemerken, wo es "bei uns hakt". Diese Form von harter Schule stand mir bevor. So gingen wir beide gewisser- maßen blauäugig in dieses Abenteuer hinein...

Um die Sache etwas abzukürzen: Auch meine Geduld hat Grenzen. Dann muss aber wirklich viel passiert sein! Eben das war der Fall. Es reihte sich während dieses Besuches Ereignis an Er- eignis. Ich ließ mir viele Boshaftigkeiten gefallen. Die meine Stadt betrafen, mein Haus und letztlich mich. Als ich einen Abschiedsabend mit meinen hiesigen Freundinnen feierte und diese ebenfalls herabgewürdigt wurden, implodierte die ganze Situation. Nichts wurde ausge-sprochen, aber vieles gesagt. Ich entschuldigte mich traurig. In mir war es fünf Minuten vor zwölf.

Vielleicht auch nur zwei. Am Folgetag kamen die nächsten Dreistigkeiten und da riss selbst mir der Geduldsfaden. Ich sollte die Dame mal eben 250km  weit nach Hause fahren, da sie in mei- ner "Primitivstadt" nicht jene ganz spezielle Olivensorte fand, die am Wochenende selbstver-ständlich zu ihrem Speiseplan gehörten. Es war jener Moment, bei dem in mir etwas einrastete. Oder aus? Sehr ruhig erklärte ich, ich würde nun per Internet den nächsten Zug gen Buxtehude erkunden, in dieser Zeit wäre die Reisetasche zu packen und dann würde ich Taxi zum Bahnhof spielen. So geschah es. Dort gab es noch eine Szene mit der armen Schalterbeamten. Der Zug kam. Ich war wie befreit...

Was ich hoffte? Dass wir uns nie wiedersehen würden. Es kam auch kein einziges Wort, nach diesem dramatischen Samstag. Am Dienstag bereitete ich im Haus alles auf meine lange Abwe- senheit vor und fuhr gen Nordheide. Am nächsten Morgen um 11 Uhr starte der Bus am ZOB Hamburg. Meine Kids hatten telefonisch erfahren was los war. Sie erwarteten mich zur Verab-schiedung. Ins Wandertagebuch schreibe ich in St.Jean:

Wir lächeln, die letzten Worte fallen. Fotos entstehen. So gelassen war ich noch vor keinem Camino. Alles ist gut!

Seltsam. Kein einziges Wort von meinen Bedenken. Denn meine Freundin erschien am Bus- steig. Verkniffen. Allein. Sie tat uns leid. Ich hatte meine Familie um mich, sie nie Kinder ge- wollt. Dass das ihre eigene Entscheidung war und nicht in unserer Verantwortung lag, das kam uns nicht in den Kopf. Wir sind eben anders. Was ja auch gut so ist. Dass ich nicht ahnte, wie dieser Weg verlaufen würde, das war ebenfalls ein Glücksfall. Vielleicht wäre ich sonst nicht in den Fernbus eingestiegen. Aber es musste so sein...

Weiter schrieb ich:

Lange sehe ich in meinen Gedanken noch meine lachenden Kids dahin rennen, um den Bus   noch einmal abzufangen, für einen letzten fröhlichen, winkenden Gruß.                          

Eine schöne Erinnerung ist das, ich werde sie mitnehmen, auf den langen Weg, der vor mir liegt. Wie lange werde ich unterwegs sein?

Was mir jetzt, heute, auffällt: Ich schrieb "ich", nicht "wir" - ahnte ich, dass ich Santiago mit ei- nem ganz anderen Menschen sechs Wochen später erreichen würde? Vermutlich. Ganz tief im Hinterkopf. Wir fuhren um 11 Uhr los, stiegen am kommenden Morgen um 5 Uhr in Tours in den nächsten Bus, wechselten am Nachmittag in Bordeaux in die Bahn, bis Bayonne. Dort gab es nur Schienenersatzverkehr, also fuhren wir mit einem Bus hinauf in die Pyrenäen, nach St.Jean. Im Pilgerbüro warnte man uns vor der Eiseskälte auf dem Pass, der eben gerade erst wieder freigegeben war. Zwei tote Pilger (junge Männer) hatte das Wetter gerade gefordert und schaudernd sahen wir am Folgetag ihre Kreuze am Wegesrand. Ins Tagebuch trug ich ein:

 

 

Ich werde sie versuchen. Meine Kraft ausreizen. An ihre Grenzen kommen.

Allen Menschen die mir im realen Leben etwas bedeuten, werde ich begegnen.

Sie tragen nur andere Namen. Und Gesichter. Ich werde tanzen und trauern.

Erst viel später verstehen. Manches erst im zurückliegenden Jahr.

Der Weg gibt Dir das, was Du brauchst, nicht das, was Du willst. Wie wahr!!

 

 

 

"Where are we going?"

Where we belong...