Neuer (trauriger?) "interner" Rekord: Nach zwölf Tagen Einsiedelei im Haus trete ich zum ersten Mal wieder auf die Straße, wundere mich über den eisigen Wind und darüber, dass ich schlotte- re, obwohl +4° angesagt sind und ich mir den schlammbraunen Parka übergezogen habe, die Caminomütze trage u. an den Handgelenken jene warmen Wollstulpen, die mir eine Blogfreun- freundin einmal gestrickt hat. Aber der Wind kommt eisig übers Wasser und lässt die Kiefer ge- frieren. Es nützt nichts, dieser Ausflug muss sein! An Heiligabend hatte ich nur das Allernot- wendigste eingekauft - drei Tage lang sollte es reichen, aber danach kam Migräne. Müdigkeit. Und überhaupt... 

Wenn man alles infrage stellt ergeben sich (scheinbar) kuriose Situationen, aspergertypisch e- ben. Also für mich ganz "normal" (was immer das auch ist, für die Welt da draußen)... Ich starre z.B. auf's Smartphone. Auf dem die von mir so heiß ersehnten Antworten nicht eintreffen. Erst gestern habe ich es enttäuscht vom Schreibtisch zurück ins Regal gelegt. Waren meine Silvester- grüße falsch formuliert? Zu nah gehend? Oder zu kühl formuliert? Zu wenig liebevoll? Zu sehr voller Gefühl? Das zerreißt mich. Und eben gerade das ist so zerstörend. Ich brauche Fakten. Einfach nur das. Doch vielleicht ist eben gerade das: nicht einfach...

Welche Straßen entlang gehen? Um den Delft herum ist es mir zu weit. Also schnurstracks gen City. Die nicht jene von New York ist. Oder Paris. Warum fällt mir gerade das ein? Weil ich vom 3.Camino schrieb / weiter schreiben werde. Ja, vielleicht wegen dieser Erinnerung. Noch immer thront vor dem Rathaus die große Weihnachtstanne. Wie aus der Zeit gefallen. Typisch Seeha- fenstadt. Aber ist es wichtig? Nein. 

In der Einkaufsstraße findet sich jede Menge an Weihnachtsdeko in den Schaufenstern. Was ich kopfschüttelnd registriere. Werde ich erst in weiteren 12 Tagen wiederkommen? Dann wird alles abgeräumt sein. Vermutlich auf Frühling dekoriert. Schließlich müssen Bedürfnisse geweckt wer- den. Kauf mich! Du brauchst das! Nö. Ich nicht! 80% von dem, was sich bei mir im Haus sta- pelt, das brauche ich nicht. Vielleicht sind es sogar 90%? Mal ganz realistisch gesehen. Doch wer will das schon?

Es ist zu kalt für Obdachlose. Niemand sitzt mit einem Schälchen irgendwo an der Seite. Wo sind diese Menschen? Gibt es jetzt im Januar einen Tagesaufenthalt für sie? Ich denke an jenen Mann mit den weisen Augen, der jetzt irgendwo in Deutschland unterwegs ist. Mit einem blauen Rucksack, der zwei Jakobswege überstanden hat. Das hoffe ich jedenfalls...

Beim Discounter ist es voll. Publikumsmäßig gesehen. Ansonsten: leer. In den Regalen. Morgen ist Inventur angesagt, da hat man es vermieden Nachschub zu bestellen. Verständlich. Gekauft wird, was da ist. Was es nicht gibt, das ist eben nicht da. Mein Rucksack füllt sich trotzdem am Ende und die Tragetasche aus Stoff auch. Sie hält noch immer, obwohl sie mich auf vielen tau- senden Kilometern kreuz und quer durch Spanien und über das Fischland im Backpack begleitet hat, als leichte Hülle für meine Wanderstiefel, wenn ich statt ihrer bei Hitze die Wandersandalen trug...

Die Vorratspackung Toilettenpapier muss auch mit. Seit Tagen schon hatte ich Stücke aus Kü- chenrolle geschnitten. An meine Großmutter gedacht. Die ihre sechs Kinder ausschickte, um bei Familien anderer Schichten nach gelesenen Zeitungen zu fahnden, aus denen Papier für das Ber- liner Etagen - WC gerissen wurden... Das ist hundert Jahre her. Aber die Geschichte meiner Fa- milie ist die meiner Mutter, der Tanten, des Onkels. So gesehen gehört sie zu mir. Und ich frage mich, was sich verändert hat. Die ungeheizte Wohnung der Oma, ihr eisekaltes Bett, das erinne- re ich noch sehr genau. Aber auch ihre Stärke, Liebe. Ich habe viel von ihr. Eines der Wunder meines Lebens.

Heute erspare ich mir die kleine Gasflasche. Sie lohnt jetzt nicht mehr, es ist fast schon abends. Der Wetterbericht verkündet neue Stürme. Und ansteigende Temperaturen. Ja bitte! Das Wetter hat ein Einsehen. Mit meinen ganzen Merino - und Fleeceschichten mache ich Marta Quadrata lebhaft Konkurrenz, aber, was soll's, es sieht mich ja niemand. Damit kann ich (relativ) gut le- ben. Mit anderem eher nicht. Das werde ich klären (müssen) in diesem Jahr. Damit mein Herz Ruhe findet. Das sich heute fast überschlagen hat, nur weil ich sechs Meter Zebrastreifen zu übersprinten versucht hatte, bevor das stoppende Rotlicht eintrat...

Besser ein Ende mit Schrecken. Als Schrecken ohne Ende. Das war schon immer meine Maxime.

 

Es hilft nur eines wirklich: Die befreiende Erfahrung der schmerzhaften Wahrheit.

(Alice Miller, Kindheitsforscherin)

 

 

 

Ich befürchte: Endgültig loslassen zu müssen.

Die allerletzten und allerwichtigsten Menschen meines Lebens.

 

War eigentlich klar, bei so viel Gewicht, dass das irgendwann zerbricht...