Das Kind wunderte sich. Über alles. Es war in eine ganz neue Welt geraten. Eine, die sich bewegte, ganz von selbst. Und ohne Beine zu haben, stattdessen Räder. "Auto" nannten es die Eltern,  das Kind gab ihm den Namen "Frosch", denn es war salbeigrün und hatte große, leuchtende Kulleraugen. Man konnte damit an Orte kommen, die viel zu weit weg waren, um dorthin zu laufen. Vor allem, wenn man noch klein war. Die Dreijährige hatte schon einen ähnlichen Kasten gesehen, wenn die Mutter zuerst abgeholt und später zurückgebracht wurde. Er war ganz hell, mit einem großen roten Kreuz darauf.


Wenn die Mutter wieder da war, weinte sie nicht mehr und war ganz stumm. "Der Krieg hat das ausgelöst", sagte der Vater. Und auch: "Es ist gut, dass du so still bist! Die Mama ist sehr krank." Ein kleines Bänkchen half in einer ruhigen Ecke zu sitzen und zu warten. Das war nun nicht mehr so schlimm wie früher, denn zum Geburtstag war ein Bruder eingezogen. Kein großer, wie zutiefst ge-wünscht, von dem man beschützt werden konnte, aber immerhin ein brauner Bär mit spiegelnden Glasaugen, in dessen langes, braunes Fell man sich tief hineinkuscheln konnte. Und mit großen, runden Ohren, die alle Geheimnisse bewahrten, die eine traurige Kinderseele ihnen nächtens anvertraute.


Nun saß er mit auf dem Kind auf der "Notbank" im Frosch, die eigentlich nur für Gepäck gedacht war. Ringsum waren Koffer aufgetürmt, Reisetaschen, Jacken, verschnürte Kartons, Mäntel. Wenn man durch die Ritzen blinzelte, sah man eine bunte Welt vor den Fenstern dahinfliegen. Die großen braunen Augen schauten und schauten, bis sie irgendwann zuklappten und der Kinderkopf sich schlafend an den Bären legte. Mit ihm war alles gut. Und nun würden sie zu-sammen ein Abenteuer erleben.


Eines, vor dem die Eltern sich fürchteten. Denn sie fuhren aus dem Ruhrgebiet in ihre Heimatstadt Berlin. Von wo aus sie einige Jahre zuvor mit der großen Schwester in den Westen geflohen waren. Würden sie als "Republikflüchtige" verhaftet und in der DDR interniert werden? Doch nun waren sie Bundesbürger und in gewissem Maße geschützt. Oder doch nicht? Reichte "geboren in Ostberlin" für eine Verhaftung aus? MIt bangem Herzen wurde die Fahrt ange-treten. Aber auch mit einem, in dem seit vielen Jahren die Sehnsucht brannte. Die Heimat wiederzusehen. Die Familie(n). Der Vater seine beiden bei der Exfrau zurückgelassenen, inzwischen erwachsenen Töchter. Die Mutter ihre Eltern, die Geschwister und Schwager, Nichten und Neffen - eine wahre Großfamilie.


Das Auto stoppte abrupt. Helmstedt / Marienborn stand auf einem großen Schild. Und: GRENZE. Nur mehr als langsam ging es vorwärts. Manchmal im Schrittempo, dann wiederum gar nicht. "Alles Schikane der Vopos", sagte der Vater. Worauf die Mutter nicht antwortete. Die Angst machte sie starr, sedie-rende Spritzen gab es jetzt nicht und die Beruhigungsmittel verfehlten in der Panik ihre Wirkung. 


Endlich war der Frosch das vorderste Fahrzeug. "Aussteigen!!" brüllte der Mann in der Uniform und mit dem Maschinengewehr. Und: "Alles ausräumen!!" Was die Eltern auch schreckensstarr taten. Jedes Behältnis wurde komplett ausge-schüttet und durchwühlt. Manches beschlagnahmt. Die Mutter hatte z.B. für ihre Schwester Hefte mit Schnitten aufgehoben, denn diese war Schneiderin und konnte sie für die zahlreichen Enkel sicher gut brauchen. "Den Westdreck brau-

chen wir hier nicht!" brüllte der Uniformierte und warf alles, was nicht erlaubt war, auf einen großen Haufen, der sich bereits an den langgezogenen Holzba- racken auftürmte.


Dann überprüfte er das Innere des Autos. Und entdeckte das schlafende Kind. Er entriss ihm den Bären und brüllte, es solle sofort aussteigen. Das Kind schrie auch. Vor Panik und Entsetzen. Der Bär war sein Bruder, sein Freund, sein Be-schützer. Ohne ihn würde es sterben empfand es. Und schrie zum Gotterbar-men, als der Braune aufgeschnitten werden sollte, um zu überprüfen, ob nicht Unerlaubtes in ihm versteckt worden war. Es rannte auf den Uniformierten zu, entriss ihm verzweifelt das Stofftier und kroch mit ihm an den einzigen Ort, an dem es sich in diesem Moment sicher fühlte: Unter den Frosch!


Ein allgemeiner Aufruhr entstand. DDR gegen BRD. Zwei Seiten, die eigentlich zusammengehörten, standen sich feindlich und bedrohlich gegenüber. Starrten sich an. Debattierten. "Vorfahren!" brüllte der Grenzer schließlich. Mit Mühe wurde das kleine Mädchen unter dem Auto hervorgezogen. Es ging einige Meter weiter und wieder musste gewartet werden, um die wichtigen Papiere zurück zu erhalten, die Fensterklappen der Baracke waren verschlossen. "Alles Schikane" murrte der Vater inzwischen genervt. Und erfuhr viele Jahre später, dass dieses Verhalten auf der DDR-Seite "normal" war. Wehren konnte sich schließlich kei-ner, alle waren der Situation gleichermaßen ausgeliefert. Sowohl jene von der einen Seite, wie auch die von der anderen. Feinde standen sich gegenüber. Die doch Brüder und Schwester waren. Wie sich die Bilder irgendwie gleichen, noch nach vielen Jahrzehnten?!


Lange hatte die Fahrt gedauert. Von Dortmund nach Hause. Fünfhundert Kilo-meter. Der Bär schaute sich mit seinen gläsernen Augen eine veränderte Welt an. "Du hast den Farbfilm vergessen", würde Nina Hagen viel später singen. Und vielleicht kam es nun den drei Menschen im kleinen Auto auch so vor. Ostberlin war grau. Oberschöneweide noch viel mehr. Überall Rauchschwaden. Fabriken. Kriegsruinen. Straßenzüge mit Mietskasernen, die die Farbe der Umgebung angenommen hatten. Menschen, die sich wohl mit der Zeit angeglichen hatten.
Die Eltern waren stumm, als sie ausstiegen. Was dachten, empfanden sie? 


Das Kind zwängte sich aus dem Frosch. Es wusste nur wenig vom Leben, ging in keinen Kindergarten, hatte kaum Kontakt zu Menschen. Erstaunt blickte es an den Mietskasernen hinauf. "Hier ist es nicht", sagte die Mutter, " wir müssen erst durch die Hinterhöfe!" Es waren dann drei, bis nach vorsichtigem Klingeln eine ungestrichene, knarrende Haustür geöffnet wurde. Im dunklen Treppen-haus flüsterte die Mutter, als hätten die Wände ostdeutsche Ohren: " Du musst jetzt hinaufgehen, bis zum fünften Stock, du kannst doch schon zählen! Die Wohnung wird offen sein. Und dort ist die Oma. Sie wartet schon sehnsüchtig auf dich, denn sie hatte immer nur Fotos von dir! Denk' daran, dass sie schon eine sehr, sehr alte Frau ist und gib ihr einen Kuss!"


Im linken Arm hielt das Kind den Bären, sich mit der rechten Hand an den Geländerstäben fest. Noch eine Stufe und noch eine. So viele! Dann sah es die offene Tür und rannte hinein. Ein langer, dunkler Flur. Wieder eine Tür. Zur Küche. Die Großmutter hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, mit ihren zitternden, müden Beinen. Zu groß die Aufregung, nach fast einem Jahrzehnt die jüngste Tochter wiederzusehen. Zum ersten Mal den Schwiegersohn. Und das jüngste Enkelkind von fünfzehn. Den Nachkömmling. Auch die Küche war dunkel. Das Kind sah die Oma im Gegenlicht. Und lief in ihre ausgebreiteten Arme. 



" Bin ich jetzt endlich zu Hause?" fragte es leise.
"Du bist jetzt für immer mein kleiner Engel", sagte sie.
Das Kindergesicht weinend mit unzähligen Küssen bedeckend.




06.04.2022

Wird fortgesetzt...








Und wenn ich mich dreh’ 

spür’ ich den Wind mit seiner Macht.

Ich heb’ ab vom Boden und flieg’ wie ein Vogel 

in die sternenklare Nacht.

Und wenn ich tanz’ 

tanz’ ich allein.

Fängt alles erst an.

Alles beginnt.

Nichts ist vorbei...