Ein Regalsystem aufgebaut. IKEA Ivar, "das Schreckliche".

Genau in diesem Moment klingelt meine Nachbarin.

Die einzige im Dorf, zu der ich näheren Kontakt habe.

Vielleicht weil sie leicht behindert ist. Anders.

Das bin ich auch. Auf meine Art.

 

Ich koche Kaffee, da kommt auch der Große.

Nun wird es mit der Weiterbauerei nichts mehr.

Dafür muss ich allein sein. Konzentriert.

Also Smalltalk. Das Gespräch plätschert dahin.

Der Große dummelt in meinem Rücken auf dem Fernsehsessel..

 

Da fragt mich doch das harmlose Wesen gegenüber:

"Gehst du noch einmal auf einen Camino?

Warum bist du überhaupt gegangen?"

 

Ich erzähle vom halben Jahr gänzlich ohne Einkommen.

Ohne Krankenversicherung. Aber voller Angst.

Wie ich vor Verzweiflung den Rentenantrag stellte.

Mit absolut ungewissem Ausgang.

 

Und aus einem düsteren Sturmhimmel vor dem Amt urplötzlich

ein Sonnenstrahl brach: Als wolle er mich erinnern.

Daran, dass ich nicht ganz verlassen war...

 

In die kleine, uralte Dorfkirche setzte ich mich.

Entzündete eine Kerze. Bat um Hilfe in der Not.

Und wollte etwas anbieten dafür. Etwas Schwieriges.

Und so gelobte ich den Jakobsweg.

Viel Leid folgte noch. Ein Winter. Die Erlösung.

Dann brach ich auf.

 

Mein Leben änderte sich. Nicht zum letzten Mal.

Ich ging noch einmal. Und wieder. Und nochmal.

Begegnete vielen Gefährten. Und ihren Gründen.

 

Das Thema „Krebs“ tauchte immer wieder auf.

Die Hoffnung, einen Menschen erretten zu können.

Auch Trennung war ein Grund. Verzweiflung.

 

Eine Weggefährtin erzählte mir von ihrer Tochter.

Verstrickt in vielfältige Abhängigkeiten.

Sie ging für sie. Um sie zu befreien.

An einem stillen Abend sagte sie:

"Aber so funktioniert es nicht! Ich habe mich geirrt!

Jener Mensch, der Hilfe braucht, muss selbst gehen.

Nur dann lernt er. Und versteht vielleicht...“

 

Seltsamerweise fiel mir gerade diese Situation ein!

Oder auch aus dem Zusammenhang heraus.

Wenn es irgendetwas helfen, verändern könnte,

so würde ich losgehen.

Würde versuchen die Welt anzuhalten.

Oder sie sogar rückwärts zu drehen.

 

Aber das vermögen wir Menschen nicht.

Und sei der Wunsch auch noch so groß,

dem Schicksalsrad in die Speichen zu greifen!

 

Das alles sagte ich natürlich nicht.

Aber sprach jenen Teil aus, der bisher ungesagt war.

Dass ich einen letzten Camino gehen möchte.

Wenn ich es körperlich noch schaffe.

 

Die Bedingung dafür: Mein Haus muss verkauft sein.

Eine schwere Last mir damit von der Seele genommen.

Wie könnte ich anders meinen Dank verdeutlichen?

Dieses Gelöbnis habe ich vor langer Zeit abgelegt.

 

Was der Große bisher nicht wusste.

Ich spürte seine Blicke in meinem Rücken.

"Wirst du allein gehen?“ lautete die Folgefrage.

Ja. Nur so wird Zeit sein für alles.

Den Kopf. Den Körper. Die Seele.

Genügend Zeit. Wenn es denn so kommen soll...

 

Am Nachmittag ist der Große bei meinem Zahnarzt.

Ich gehe durch Emdens dunkle Innenstadt,

mit den hell erleuchteten Schaufenstern.

Der Weihnachtsmarkt wird gerade aufgebaut.

Irgendwie ist mir alles seit Jahrzehnten vertraut.

Und doch fühle ich mich wie eine Fremde. Nur als Gast.

 

Die Zeit rennt, schnellen Schrittes eile ich zurück.

Treffe auf den tapferen Patienten.

Und meinen Lieblingsnachbarn, der mir ein Freund ist.

Er hat schon lange Krebs. Aber lebt damit.

 

Ich frage nach den Kids. Die im Alter wie die meinen sind.

Sie waren sich Jugendgefährten damals.

Drifteten später auseinander. Hierhin und dorthin.

Selbst zu berichten fällt mir anfangs schwer.

Aber mit jedem Satz wird es zunehmend leichter.

 

Es bricht aus mir heraus, was ich so lange nicht sagen konnte.

Wieder spüre ich bohrende (oder fragende?) Blicke.

Vielleicht Unverständnis. Warum mit Anderen?

 

Weil ich allein gelassen war. Am Bahnhof.

Und in jener Nacht, da ich einen Arm gebraucht hätte.

Ein paar tröstende Sätze. Oder nur Worte.

 

Seitdem bewahr' ich allen Schmerz in meinem Herzen.

Aber zugleich auch jegliche Kraft. Den Rest an Fröhlichkeit.

Von mir ist nur die äußere Hülle geblieben.

 

Die nichts zu tun vermag.

Ich kann mir in meiner Situation selbst nicht helfen.

Und auch niemandem sonst.

 

Am Abend las ich einen berührenden Satz.

Der so wahr, wie grausam ist.

Aber so ist das Leben. Und ist auch der Tod.

Das Leben eines Menschen ist nur ein Tropfen im Ozean.

 

"Obdachlose sind Menschen,

die haben den Schlüssel zum Nest verloren.“

(Rudolph Moshammer, Münchner Modezar, ermordet 14.1.2005)